Lernprozesse – Skimetapher
Ich war in der vergangenen Woche mit meiner Klasse auf Skifahrt. Das ist einer der unbestrittenen Höhepunkte in der Schullaufbahn, die jede Schülerin, die jeder Schüler bei uns durchläuft – und teilweise sogar das Entscheidungskriterium für unsere Schule bildet.
Wir fahren seit Jahren in ein kleines, aber feines Skigebiet am Inntal. Es eignet sich vorzüglich für Anfänger durch seine lange blaue Piste mit „Babylift“ im oberen Teil. Geschult wird durch erfahrene Kolleginnen und Kollegen mit Skischein, die Klassen werden in der Regel von ihren Klassenlehrern begleitet – vorzugsweise wenn diese über einen Skischein oder zumindest Skierfahrung verfügen. Ein Begleiter darf immer ohne diese Voraussetzung mitfahren – das war in diesem Jahr quasi ich, der eine rote Piste leidlich im Parallelschwung herunterkommt.Perspektivisch möchte ich gerne auch den Skischein machen, aber dafür muss ich noch ein wenig mehr Fahrerfahrung sammeln.
Dieses Jahr hatten wir eine unglaublich fitte Gruppe: Schon nach zwei(!) Tagen fuhren die meisten Anfänger so gut, dass die blaue Piste samt nicht ganz einfachem Ankerlift (oft vereist) befahren werden konnte. Am dritten Tag waren ca. 75% auf der roten Piste mit viel Spaß unterwegs.
Ich habe auf der langen nächtlichen Rückfahrt viel über das Skifahren als Metapher für Lernprozesse allgemein nachgedacht. Da ich selbst in diesem Jahr sehr viel gelernt habe, verfüge ich über zwei Perspektiven: Lerner (Tag 3–6) und Lernbegleiter (Tag 1–2). Ich bin zu folgenden Ergebnissen gekommen:
- Lernen erfordert ein gewisses Maß an Leid. Es gab Schussstrecken, die im Schuss gefahren werden mussten, was mir immer ein wenig schnell ging. Die Alternative hieß dann aber Abschnallen und Laufen oder Skaten (am Tag 3–4 ohne Stöcke). Im Schuss muss man sich sich zwingen, in die Vorlage und Hocke zu gehen und die Bretter parallel zu halten, was viel Überwindung und Vertrauen ins Material kostet. Die Geschwindigkeit macht irre Spaß, aber mulmig ist mir dabei doch, denn die Carving-Ski flattern „prinzipbedingt“ immer. Im Schuss kann mir keiner helfen…
- Lernen erfordert Freiraum – diejenigen, die Zeit bekamen, den technischen Input lange und frei für sich zu üben, lernten erstaunlicherweise schneller als die 1:1‑Betreuten.
- Lernen erfordert Selbstwahrnehmung – heutige Carving-Ski geben unmittelbares Feedback, ob der Bewegungsablauf richtig war. Wer bei einer Parallelfahrt kantet, erlebt einen Hauch davon, was Skifahren noch alles sein kann. Wer den Kurvenradius eines Carving-Skis über den Fallpunkt hinaus voll ausfährt, wird schnell, ohne wie beim energiesparenderem steilerem Fahren unnötig Höhe zu verlieren, braucht aber wesentlich mehr Mut als beim starken Driften und wenn die Eisplatte kommt, wird es schnell kriminell – das muss man dann halt vorher sehen.
- Lernen erfordert Durchhaltevermögen – wer die Rote im Pflug fährt, weil er die Übungen zum Parallelschwung bewusst nicht annimmt („Das ist zu schwer!“), leidet ab einer gewissen Geschwindigkeit merklich und entwickelt sich nicht weiter.
Die Schlussformel lautet für mich: Lernen braucht Persönlichkeit. Ein Carver am Fuß eines Menschen, immer nur im Pflug fährt, kann sein Potential nicht ausspielen – so wie es die neuen Geräte und Medien dort eben auch nicht können. Skifahren ist Sport, aber eben auch Persönlichkeitsbildung. Die Frage ist, in wessen Aufgabengebiet ebendiese Persönlichkeitsbildung fällt und ob wir in der Literacydidaktik nicht oft voraussetzen, dass diese bereits abgeschlossen bzw. weit fortgeschritten ist.