Welches Gedicht ist schöner?
Wenn ich in der Unterstufe z.B. Parallelgedichte schreiben lasse, kommt ja irgendwann die Frage auf: „Herr Riecken, welches Gedicht finden Sie denn nun am schönsten?“ Und schon befindet man sich in einem trefflichen Dilemma. Denn wie erklärt man in unteren Klassen mit gängigen „Deutschlehrerkategorien“, warum man ein Gedicht mehr mag als das andere? Ich habe es heute mit einem für mich neuen Ansatz versucht. Gegeben seien die zwei folgenden – von mir erdachten – Texte:
Text 1:
Mir ist warm geworden
träumte die Sonne
Mir ist wohlig geworden
murmelte das Kind
und der Himmel strahlt
so blau wie noch nie
friedvoll lachte
der Sommer
auf dunkelgrünem Blätterdach.
Text 2:
Mir ist heiß geworden
sagte die Sonne
Mir ist heiß geworden
sagte das Kind
Mir ist heiß
und die Büsche
gehen roh in den Tag
Freudig, keck
rennt der Mittag
um den See.
In der Unterstufe kennt man Wortarten und man weiß, dass Herr Riecken „haben“ und „sein“ als Vollverben gar nicht mag und dass er zudem auf abwechslungsreiche Sprechaktverben steht. Also habe ich mit den SuS Substantive, Nomen und Adjektive tabellarisch gesammelt. Kommen Worte mehrfach vor, werden sie auch mehrfach notiert.
Für Text 1:
Substantive | Verben | Adjektive |
Sonne Kind Himmel Sommer Blätterdach |
ist geworden träumte ist geworden murmelte strahlt lachte |
warm wohlig blau friedvoll dunkelgrünem |
Für Text 2:
Substantive | Verben | Adjektive |
Sonne Kind Büsche Tag Mittag See |
ist geworden
sagte ist geworden sagte ist gehen rennt |
heiß
heiß heiß roh freudig keck |
Jetzt lässt sich feststellen, dass die Wahl der Verben und der Adjektive im zweiten Text recht eintönig geraten ist. Streiten kann man sich auch, ob die Substantive im zweiten Text wirklich zueinander passen.
Dann kommt man zwar weg vom Gefühl hin zu einem eher analytischen Blick, aber man kann danach anfangen Worte auszutauschen und mit Wirkungen zu spielen. Auch in der Unterstufe.