Ein kleines, fiktives Interview mit Herrn Riecken
… welches klammheimlich die Seite „Über dieses Blog“ ersetzt hat, jedoch so natürlich nicht im Feed auftaucht. Es ist dafür gedacht, mehr Orientierung für diejenigen zu schaffen, die hier nur zufällig vorbeistreifen und unbedingt etwas von mir wissen wollen. Dazu sollte ich noch sagen, dass das hier alles Meinung, Erfahrung und keineswegs Wissenschaft ist. Zudem denke ich, dass viele meiner hier dargelegten Positionen streitbar sind. Absicht.
Herr Riecken, bitte stellen sie sich unseren Leserinnen und Lesern kurz vor!
Mein Name ist Maik Riecken, ich bin Jahrgang 1974. Ich habe 1. und 2. Staatsexamen in den Fächern Deutsch und Chemie und unterrichte heute – an einem Tag im Jahr 2010 seit sieben Jahren an einem Gymnasium in einer Kleinstadt in Niedersachsen ebendiese Fächer. Vorher war ich im Referendariat an einem Gymnasium in Itzehoe, Schleswig-Holstein, dem ich bei Lichte betrachtet, jeden meiner schulischen Grundsteine verdanke. Ich bin nicht pädagogisch arm in die Schule gekommen, sondern konnte auf vielfältige Erfahrungen innerhalb der kirchlichen Jugendarbeit zurückblicken. Von der Organisation von großen Freizeiten mit ca. 300 Teilnehmenden bis zur Leitung von Gruppenstunden war in dieser Zeit eigentlich alles dabei – auch Kochen oder Einkaufen für Großgruppen oder das Flicken von Zelten., später sogar die thematische Arbeit mit Schulklassen, bei denen oft genug dann der Lehrer das eigentliche Problem war. Das Entscheidende für meinen heutigen Beruf war dabei meine Arbeit mit Menschen – etwas, was in der gesamten Studien- und Lehrerausbildungszeit so gut wie gar nicht vorkam. Entscheidend war aber auch die Erfahrung, dass man auch in desolaten Situationen handlungsfähig bleiben kann, wenn man muss.
Haben Sie Familie?
Ja – und Sie wären über ihre Größe überrascht. Aber die entscheidet selbst über den Grad an Öffentlichkeit.
Sind Sie ein guter Lehrer?
Ich bringe meinen SuS bei, dass die Kategorien „gut“ und „schlecht“ nichts taugen. Für jemanden, der bei mir nur optimierbare Noten schreibt, dem ich aufgrund des Systems kaum gerecht werden kann, der auch bei mir wie bei allen anderen nicht auffällt, bin ich ein schlechter Lehrer. Für jemand anderen vielleicht ein guter. Vor dem eigenen Selbst zählt für die Bewertung nur eine Sache: Mag man als Lehrer seinen Job? Ich mag ihn.
Was mögen Sie an ihrem Beruf?
Dass er für mich nicht einfach nur ein Beruf ist, sondern ein soziales Experimentierfeld, eine Tätigkeit, die mein Leben lang ausgeübt habe und noch heute immer wieder genieße: Den Umgang mit Menschen. Dazu gehören schwere Niederlagen ganz genauso wie ergreifende Momente, etwa wenn SuS mir unter vier Augen ehrlich sagen, dass sie eine Handlung oder ein Verhalten von mir nicht angemessen fanden – im Grunde gibt es für eine Lehrkraft kein größeres Lob als das, weil es zeigt, dass Vertrauen jenseits von fachlicher Wissensvermittlung vorhanden ist.
Was mögen sie nicht an ihrem Beruf?
Zur Zeit mag ich die Tatsache nicht, dass es neben den eigentlich wichtigen Schülerinnen und Schülern sowie Kolleginnen und Kollegen noch ganz viele andere Menschen gibt, die meine Arbeitskraft direkt oder indirekt von den eben genannten, zentralen Personen abziehen. Guter Unterricht an sich ist ein Fulltimejob.
Momentan soll ich zusätzlich auch noch evaluieren, messen und „Traumtänzerkonzepte“ umsetzen, die für mich immer den latenten Vorwurf enthalten, dass die Arbeit, die ich gerade mache, einfach nicht genügt, weil ich selbst Schuld bin. Ganz schlimm finde, wenn einige dieser Bildungsexperten ein Ziel vorgeben, sich aber überhaupt nicht darüber bewusst sind, dass die eigentliche Arbeit nicht in der Formulierung des Ziels, sondern in dem Weg dorthin liegt.
Sprachlich findet für mich diese Position dadurch Ausdruck, dass man davon spricht, dass Schule sich sowieso „selbst abschafft“, dass wir nicht eine Tranformation (Weg), sondern eine Revolution (Ziel) benötigen, als wenn die dazu notwendigen Strukturen vom Himmel regnen würden.
Unglaubwürdig wird es für mich vollends, wenn die „Reformer“ so wichtige Schlüsseltechnologien, wie sie im Web2.0 zu finden sind, nicht oder nur stark eingeschränkt beherrschen. Wenn ich z.B. Kompetenzen fordere, dann muss ich auch auf Basis meiner eigenen Kompetenzen jeden Tag in der Lage sein, zu lernen – dabei beherrsche ich dann automatisch immer mehr Tools – objektorientiert aufgebaut sind sie z.B. alle irgendwie.
Mit neuen Konzepten kann man zwar in der Öffentlichkeit Eindruck machen, holt jedoch keine Lehrkraft hinter dem Ofen hervor. Klar sind wir weisungsgebunden und klar kann man – so man wollte – diese Konzepte befehlen, sie verordnen. In Schule mache ich jedoch die Erfahrung, dass derartige Konzepte die jeweilige Legislaturperiode kaum überdauern, d.h. ich schreibe z.B. heute ein neues Curriculum bzw. Konzept und kann es in spätenstens drei Jahren in die Tonne kloppen. Das halte ich aus motivationaler Sicht für suboptimal. Und nachhaltige Arbeit und ein Schauen auf die Wirkung einer Reform sind auf diese Weise auch eher schwierig zu realisieren – geschweige denn eine Evaluation, die einen echten Sinn hätte.
Was würden Sie an Schule ändern?
Da wäre zu unterscheiden zwischen strukturellen und internen Veränderungen. Weiterhin müssen wir berücksichtigen, dass die Zeit der wirtschaftlichen Krisen noch lange nicht vorbei ist – da laufen demnächst noch Mietverträge von Immobilien großer europäischer Immobilienfonds aus und wir erinnern uns daran, womit der ganze Kram in den USA angefangen hat. Daher muss im Bildungssystem gespart werden und trotzdem darf das nicht dazu führen, dass unser Bildungssystem kollabiert.
Ich sehe keine Alternative zur kompletten Aufgabe des Bildungsföderalismus. Er kostet uns unnötig Geld und verschwendet geistige Ressourcen, die man meiner Meinung nach besser bündeln sollte. Wir werden es uns auf Dauer nicht leisten können, dass sich jedes Kultusministerium in diesem Land didaktisch selbst verwirklicht – und wenn wir schon die PISA-Ergebnisse zur „Herbeiführung eines längeren gemeinsamen Lernens“ bemühen, dann sollten wir auch anerkennen, dass die PISA-Gewinner ihr Bildungssystem eben nicht dezentral organisieren. Alles andere halte ich für Rosinenpicken.
Wir müssen es ferner schaffen, Bildung in irgendeiner Weise von politischen Legislaturperioden abzukoppeln, um Kontinuität und Nachhaltigkeit zu ermöglichen. Vielleicht ist das Bildungssystem in der Hand einer unabhängigen NGO besser aufgehoben. Das wird sich politisch allerdings noch schwerer durchsetzen lassen als die Aufgabe des föderalistischen Prinzips, da Politik in nahezu keinem Feld aufgrund der Trümmer unseres zerfallenden globalisierten, kapitalistischen Systems noch große Gestaltungsmöglichkeiten hat und das Bildungssystem hier in den letzten Jahren nach meiner Meinung immer eine Art „letztes Refugium“ war. Politik muss dieses neu zu schaffende System natürlich kontrollieren können („alle Gewalt geht vom Volke aus“), weswegen ich zentrale Vergleichstests nach Klasse 2,4,6,8,10 und 12 vorschlage – wenn die sich auf dem bisherigen Niveau schulübergreifender Vergleichstests bewegen, wird das natürlich nichts. Wieder einmal in Skandinavien gibt es damit bereits konkrete Erfahrungen. Die Kompetenz-/Literacydidaktik erfordert m.E. keinerlei vorgegeben Inhalte (=„Lehrpläne“) mehr. Gleichwohl gilt es in meinen Augen anzuerkennen, dass Kompetenzen und – umfassender – Literacy ohne Inhalt vollkommen wertlos sind und es gilt anzuerkennen, dass es didaktische Konzepte in der klassischen Schule gibt, die auch einen Sinn ergeben, weil sie sich bewährt haben.
Die aufnehmende Institution soll nach der Schullaufbahn entscheiden, wer für den jeweiligen Ausbildungs- bzw. Studiengang geeignet ist (Eingangstests). De facto passiert das bereits in fast jedem größeren Ausbildungsbetrieb. Da wird nicht mehr auf sowas wie „Noten“ geblickt oder eben nicht sehr lange – das sagt ja auch schon etwas über unser jetziges Schulsystem aus. Ich habe das selbst in meiner Studienzeit vor Hauptseminaren erlebt, an denen man nur teilnehmen konnte, wenn es gelang, den Eingangstest zu bestehen – und das waren prägende Hauptseminare auf hohem inhaltlichen Niveau.
Jetzt könnte man berechtigterweise einwenden, dass durch die „Gleichmacherei“ das Wettbewerbsprinzip im Bildungssystem wegfiele. Ich möchte dieses Prinzip nicht auf Bundeslandebene, sondern auf Schulebene verwirklicht sehen und damit sind wir bei den inneren Reformen.
Ich finde es ausgesprochen wichtig, Schule von innen zu reformieren. Dafür braucht es Vertrauen und Freiheit, weil das den Schulfrieden gefährdet. Wenn auf die oben angesprochenen Vergleichstests vorbereite, habe ich inhaltliche Freiheiten ohne Ende. Schule steht und fällt für mich mit den Lehrkräften. Nur das Beste sollte gut genug für unsere Kinder sein. Der Schlüssel hier liegt für mich in der Persönlichkeit des Lehrers. Wer hier ein Bewusstsein um die eigenen Stärken und Schwächen mit externer Unterstützung zu entwickeln vermag, wird anderen Unterricht als vorher machen. Diese Lehrkräfte müssen allerdings auch mit den Freiheiten (s.o.) umgehen können. Dafür braucht es eine geeignete Ausbildung und ein Fortbildungs- und Unterstützungsangebot an dem verbindlich teilgenommen werden muss. Und es braucht geeignete und entsprechend qualifizierte Führungskräfte an den Schulen.
Wo sollen die ganzen verantwortungsbewussten und führungsstarken Persönlichkeiten, die Sie hier auf höchstem Niveau fordern, denn herkommen?
In der Tat ist der Lehrerberuf zur Zeit anscheinend objektiv unattraktiv, trotzdem ja immer wieder die exorbitant ausufernden Ferien, dir fulminante Bezahlung und die Unkündbarkeit an den Stammtischen bemüht werden. Also müssten wir uns vor Bewerbern kaum retten können – das Gegenteil ist jedoch der Fall: Wir laufen auf einen Lehrermangel zu, der sich in meinem Bundesland Niedersachsen durch zahlreiche politische Reaktionen niederschlägt, z.B. Änderungen am Laufbahnrecht zu Gunsten von Quereinsteigern, einer verkürzten Referendariatsszeit usw.. Was ist da los? Wir sind bestens bezahlt und abgesichert – trotzdem will keiner den Job.
Ich vermute, dass das zu einem ganz großen Teil an dem mangelnden Handlungsspielraum liegt, den ich als Lehrer, aber noch viel mehr als Schulleiter habe. Klar kann ich z.B. vorgeblich problematische Kollegen „wegekeln“ – ob ich dann jemand neues nachbekomme, der über gleichwertige Qualifikationen verfügt, steht mittlerweile in den Sternen. Ich habe aber auch als Schulleiter nicht die Möglichkeit, dem betroffenen Kollegen Unterstützungsangebote zu machen (was bei Lichte betrachtet viel effektiver wäre). Schulleiter, die das trotz aller Widrigkeiten lange Zeit hinbekommen haben, sehen sich jetzt mit der „selbstständigen Schule“ konfrontiert, wobei sich die Selbstständigkeit meist darin erschöpft, dass Aufgaben, die ehemals dem Ministerium zufielen, nun von der Schule geleistet werden müssen – z.B. Einstellungsverfahren. Auch für den einfachen Lehrer ließen sich eine Reihe von Einschränkungen aufzählen, die den Beruf losgelöst von jedweder Bezahlung unattraktiv machen, da ich den Menschen von Natur aus für explorativ halte. Deswegen habe ich weiter oben auch von Freiheit für die Schulen gesprochen. Sie kostet kein(!) weiteres Geld, bedeutet jedoch Kontrollverlust und kann auch m.E. ein wesentlicher Beitrag zur Attraktitätssteigerung des Lehrerberufes sein.
Auch eine Politik, die sich vor ihre Lehrkräfte stellt und damit mit dazu beiträgt, das Ansehen von Lehrerinnen und Lehrern in der Bevölkerung zu stärken – ein wesentliches Merkmal der PISA-Gewinnerländer – kann mit dazu beitragen – kostet auch nichts. Wie ist es möglich, dass ein Land wie Finnland hunderte von Bewerbern für den Schuldienst in einem harten Verfahren aussortiert, obwohl die Bezahlung und die Versorgung – das sind keine Beamten! – wesentlich schlechter als in Deutschland sind? Wir reden in Niedersachsen mittlerweile von Quereinsteigern, die sich ihre Berufsqualifikation im Schuldienst selbst holen – ich kenne Beispiele, wo das super klappt, aber auf breiter Front?
Wie stehen Sie zum dreigliedrigen Schulsystem in der bestehenden Form?
Momentan unterrichte ich an einem Gymnasium. Ich bin für Vielfalt. Ich denke, dass es ein Gewinn ist, dass wir in Deutschland verschiedene Schulformen anbieten. Ich denke, dass es ein Verlust und falsch wäre, ein Schulsystem ganz gleich welcher Ausgestaltung zu „verordnen“. Es gibt Gesamtschulen, die ausgezeichnet laufen und auf die auch „Bürgerliche“ wie diejenigen, die gerade in Hamburg gegen die sechs gemeinsamen Jahre Sturm laufen, ihre Kinder gerne schicken würden. Es gibt Gesamtschulen, die einen schlechten Ruf genießen. Auch jede andere Schulform kann u.U. sehr ambivalent wahrgenommen werden.
Warum sollte eine Schule in einem sozialen Brennpunkt eigentlich die gleiche Kultuspolitik benötigen wie eine auf dem Land? Auch das spricht für mich mehr dafür, schulspezifisch zu schauen und Schulprofile real und nicht nur auf dem Papier auszuschärfen.
Eine Schule, die von innen heraus an sich arbeitet, hat ihren Ruf in meinen Augen besser in der Hand – losgelöst von ihrer Organisationsform. Daher empfinde ich die momentanen Schulstrukturdebatten als wenig neu und noch weniger hilfreich, weil ich den Ansatzpunkt nicht allein im „externen Bereich“ sehe. Ich möchte produktiven Wettbewerb mit sozialen Komponenten wie z.B. Unterstützungsangebote für Schulen, die diesem Druck nicht standhalten. Und ich halte es auch nicht für abwegig, die Schulpflicht zu überdenken. Da ich ausgesprochen gerne in der Sekundarstufe II unterrichte, habe ich ein egoistisches Interesse daran, Bildung in der Sekundarstufe I zu verbessern, da ich später selbst davon ideell profitiere. Durch ein gewisse „Konkurrenz“ durch z.B. Unschooler oder eben andere Schulen erhoffe ich mir auch dort Impulse.
Das klingt alles wie eine Utopie
Es ist eine. Tatsächlich geht die Bewegung in eine ganz andere Richtung. Die Politik möchte meiner Meinung nach nicht weniger Einfluss, sondern mehr. Mein Einfluss auf die ganz großen Räder ist begrenzt. Mein Einfluss auf meinen Alltag ist es nicht. Wenn Schule sich verändern soll, dann kann das m.E. momentan nur aus dem Inneren der Gesellschaft heraus geschehen.