Soziogramme mit Google

Es gibt eine recht ein­fa­che Übung, in Unter­stu­fen­klas­sen Hier­ar­chien zu ermit­teln: Man bit­tet vor einer Klas­sen­fahrt alle SuS einen Zet­tel abzu­ge­ben, auf dem drei mög­li­che Zim­mer­ge­nos­sen für ein Vier­bett­zim­mer ste­hen sol­len. Danach wer­den die Namen nach Häu­fig­keit aus­ge­zählt und schon ergibt sich ein recht genau­es sozia­les Ran­king: Wer steht ganz oben? Wer ist in der Klas­se eher gering vernetzt?

Man kann das Gan­ze etwas abschwä­chen, indem Übun­gen á la „Grup­pe malt Grup­pe“ durch­ge­führt wer­den. So lässt z.B. in Klein­grup­pen gemein­sam ein Bild malen, etwa ein Aqua­ri­um, in dem jeder aus der Klas­se als Fisch in einer bestimm­ten Posi­ti­on dar­ge­stellt ist. Danach wird in einer Refle­xi­on jedes Bild vor­ge­stellt und bespro­chen, wobei jeder ein­zel­ne „Fisch“ sich auch selbst äußern darf. Auf die­se Wei­se ent­steht ein dif­fe­ren­zier­te­res Bild, weil sich gewis­se Aus­sa­gen rela­ti­vie­ren lassen.

Sozio­gram­me haben für mich in der Schu­le abso­lut nichts verloren.

  1. Klas­sen sind Zwangs­ge­mein­schaf­ten, in den das Ver­trau­en und die sozia­len Kom­pe­ten­zen oft nicht so ent­wi­ckelt sind, wie es nötig wäre. Sozio­gram­me habe ich in sozi­al kom­pe­ten­ten Grup­pen sowohl in der Teil­neh­men­den- als auch in der Lei­ter­rol­le als Berei­che­rung erlebt. In einer „Zwangs­grup­pe“ habe ich erns­te Bedenken.
  2. Wir Leh­rer ver­fü­gen in der Regel nicht über eine adäqua­te päd­ago­gi­sche Aus­bil­dung, das auf­zu­fan­gen, was dar­aus ent­ste­hen kann. Es ist z.B. näm­lich hart zu sehen, dass das, was man als „Under­dog“ schon intui­tiv weiß, auch alle ande­ren so sehen
  3. In der Schu­le gibt nur in den sel­tens­ten Fäl­len einen geeig­ne­ten Rah­men, um der­ar­ti­ge Übun­gen pro­duk­tiv zu nut­zen – es gehört für mich z.B. immer ein Lei­tungs­team bestehend aus bei­den Geschlech­tern sowie Zeit, Zeit und noch­mals Zeit dazu. Die Refle­xi­on ist dann abge­schlos­sen, wann sie abge­schlos­sen ist, nicht dann, wenn die Bus­se fahren.

Ich den­ke, es herrscht Einig­keit dar­über, dass Sozio­gram­me – wenn sie funk­tio­nie­ren sol­len – von Fach­per­so­nal durch­ge­führt und die Ergeb­nis­se nicht in wel­cher Form auch immer ver­öf­fent­lich werden.

Zim­mer­ge­nos­sen braucht es im Web2.0 nicht – da könn­te das z.B. bei Twit­ter so aus­se­hen (Quel­le: http://twitnest.appspot.com ):

Ich erhal­te so einen schnel­len Über­blick dar­über, wer mit wem ver­netzt ist, wie stark der­je­ni­ge ver­netzt ist und wie stark sei­ne Fol­lower unter­ein­an­der ver­netzt sind. Als Mensch kann ich auf die­se Wei­se schnell zu ande­ren, für mich inter­es­san­ten Twit­ter­nut­zern kom­men und die­sen dann auch fol­gen. Als Maschi­ne kann ich auf ein­fa­che Wei­se die­se „moder­nen Sozio­gram­me“ noch viel kom­ple­xer abbil­den und ggf. nut­zen – bei Twit­ter ist noch nicht ganz klar, wie eine sol­che Nut­zung aus­se­hen könn­te, da es noch kein brauch­ba­res Geschäfts­mo­dell zu geben scheint. Wirt­schaft­lich span­nend könn­te in mei­nen Augen die Bereit­stel­lung der Ver­net­zungs­da­ten für einen Dienst sein, der per­so­na­li­sier­te Wer­bung ver­kauft, also z.B. Face­book oder Goog­le. Bei Twit­ter dürf­te jedem klar sein, dass Tweets grund­sätz­lich öffent­lich und mit einer E‑Mailadresse ver­knüpft sind. Was ich in Twit­ter ein­spei­se, ent­schei­de ich selbst und ich über­neh­me dafür auch die vol­le Ver­ant­wor­tung. Soweit – so gut.

Vie­le Men­schen syn­chro­ni­sie­ren ihre Kon­tak­te über zen­tra­le Diens­te, z.B. Goog­le. Der Vor­teil dar­an ist, dass ich über fast jedes belie­bi­ge inter­net­fä­hi­ge End­ge­rät an jedem belie­bi­gen Ort auf die­sen Daten­be­stand zugrei­fen und ihn sogar pfle­gen kann – sehr kom­for­ta­bel. Eini­ge Adres­sen in mei­nen Kon­tak­ten gehö­ren zu Men­schen, die dem Netz reser­viert gegen­über­ste­hen und sehr auf den Schutz eben­die­ser Daten bedacht sind. Wenn ich die­se Daten mit zen­tra­len Diens­ten syn­chro­ni­sie­re, ermög­li­che ich auch für die­se Men­schen „moder­ne Sozio­gram­me“, da eine sol­che Adres­se bestimmt nicht nur in einem Adress­buch vor­han­den ist und sich dar­über intern Ver­knüp­fun­gen her­stel­len las­sen – genau wie über Twit­ter­na­men. Dadurch lie­fe­re ich die­sen Diens­ten indi­rekt auch über die­se Per­so­nen Daten, obwohl sie genau das ggf. gar nicht wol­len. Ein belieb­tes Bei­spiel ist die Mail­ac­count­scan­funk­ti­on von Face­book. Das fin­de ich schwie­rig, weil es ja eben nicht nur um all­ge­mein ver­füg­ba­re Kon­takt­da­ten geht, son­dern um sozia­le Bezie­hun­gen (die jewei­li­ge Tie­fe sei ein­mal dahin­ge­stellt), die nicht in z.B. einem öffent­lich zugäng­li­chen Tele­fon­buch ste­hen. Nun gut. Als Erwach­se­ner muss man wohl damit leben, auch wenn das jewei­li­ge Motiv des Daten­über­mitt­lers erst­mal ein ego­is­ti­sches ist: „Ich möch­te von über­all her auf mei­ne Kon­takt­da­ten zugrei­fen kön­nen. Ich will, dass das funk­tio­niert. Wie ist mir erst­mal egal. Ich nut­ze die fan­tas­ti­schen neu­en Möglichkeiten.“

Ich per­sön­lich rech­ne damit, dass genau dies mit mei­ner E‑Mailadresse gemacht wird und bin des­we­gen nie­man­dem böse, auch wenn die Ent­schei­dung, wie und wo das ver­öf­fent­licht wird, nicht bei mir liegt. Das ent­schei­den ande­re für mich. Hel­fen kann dage­gen nur, dass ich ver­su­che, die­se Daten­spur, die ich auch dadurch zwangs­läu­fig und unkon­trol­liert hin­ter­las­se, selbst zu besit­zen, indem ich sehr bewusst Infor­ma­tio­nen über mich in das Netz z.B. über mein Blog hier ein­spei­se. Wer nicht ein­mal weiß, dass er auch jetzt schon ohne direkt im Web2.0 aktiv zu sein, durch die Wei­ter­ga­be sei­ner Daten durch Drit­te eine sol­che Spur hin­ter­lässt, hat kei­ne Chan­ce, in die­ser Wei­se zu agie­ren und wird spä­ter von sei­nen eige­nen Fuß­spu­ren über­rascht wer­den – für ein sehr schö­nes Bei­spiel hal­te ich hier Spickmich.de: Ich kann viel coo­ler mit mei­ner Bewer­tung dort umge­hen, weil ich dem Glau­ben unter­lie­ge, dass die­ses Blog und mei­ne ande­ren Netz­ak­ti­vi­tä­ten eben­die­se in einer Art und Wei­se kon­tex­tua­li­sie­ren, die die­se rei­ne Schwarz-/Weiß­wahr­neh­mung mei­ner Per­son zumin­dest erschwe­ren. Das Goo­geln des eige­nen Namens reicht als Kon­trol­le nach mei­ner Mei­nung schon lan­ge nicht mehr aus. Pro­suma­ti­on (Rezi­pie­ren & Ein­spei­sen) ist gebo­ten, um den Tan­ker ein wenigs­ten ein biss­chen steu­ern zu kön­nen. Ver­kürzt zu sagen: „Och, da lässt sich eh nichts kon­trol­lie­ren, das ist eben Post-Pri­va­cy“, hal­te ich für zu ein­fach und wenig selbstreflexiv.

Wenn sich in mei­nem mit Goog­le syn­chro­ni­sier­ten Adress­buch z.B. Kon­takt­da­ten von SuS oder Eltern oder KuK befin­den, hal­te ich die Syn­chro­ni­sa­ti­on mit öffent­li­chen Diens­ten mora­lisch für aus­ge­spro­chen schwie­rig. Noch span­nen­der wird es, wenn man eigent­lich als geschlos­se­ne Umge­bun­gen gemein­te Sys­te­me via SSO o.ä. an Goog­le-Apps anbin­det. Jede E‑Mailadresse ist ein wei­te­rer Bau­stein für das „moder­ne Sozio­gramm“ – und spe­zi­ell SuS kön­nen sich zunächst nicht ihre Daten­spur zu eigen machen. Dar­an ändert für mich nichts, dass sie schon längst sol­che Spu­ren im Netz frei­wil­lig hin­ter­las­sen. Ich fürch­te mich eher davor, dass wir Leh­rer dabei dann auch die Ver­knüp­fung von Schu­le und Pri­vat­le­ben der SuS ermög­li­chen, indem wir z.B. Mood­le an Goog­le-Apps veri­fi­ziert(!) anbin­den  – immer­hin wird da ein asym­me­tri­sches Schlüs­sel­paar aus­ge­tauscht. Ich habe nichts gegen Goog­le-Apps. Ich nut­ze es auch ger­ne. Ich bekom­me bloß Kopf­schmer­zen bei der Vor­stel­lung, dass ich durch die­se Anbin­dung „mal eben“ hun­der­te von E‑Mailadressen ein­spei­se, die nun für eine algo­rith­mi­sche Ver­knüp­fung für das „moder­ne Sozio­gramm“ zur Ver­fü­gung ste­hen. Und wenn aner­kann­te Medi­en­päd­ago­gen damit weni­ger Kopf­schmer­zen haben, ändert das für mich nichts an mei­ner Grund­hal­tung, dass ich Ent­schei­dun­gen für mei­ne Per­son tref­fen kann, so viel ich will, aber nicht für Men­schen, die mir in ihrem Lern­pro­zess anver­traut sind.

Die Ver­öf­fent­li­chung der Raum­be­le­gungs­lis­te einer Klas­se emp­fin­den wir zu Recht als empö­rend und Ein­griff in die Pri­vat­sphä­re der Grup­pe (oder nicht?). Das Ein­spei­sen von in die­ser Wei­se ver­knüpf­ba­ren Daten in sozia­le Netz­wer­ke oder zen­tra­le PIM-Diens­te stellt offen­bar dage­gen kein grö­ße­res Pro­blem dar. Wir wer­ten die „Zim­mer­lis­te“ ja nicht aus – das mache intel­li­gen­te Algo­rith­men, die mich selbst wie­der und wie­der fas­zi­nie­ren. Die Feed­vor­schlä­ge im Goog­le­rea­der für mich sind schon top und wer­den immer bes­ser und bes­ser. Das ist hübsch und gleich­zei­tig auch nicht hübsch. Wer ist schon ger­ne „bere­chen­bar“?

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