Ich bin ein Digital Emmigrant
Das muss ich in letzter Zeit immer wieder und wieder lernen, weil ich so wenig verstehe, was da im Netz eigentlich vorgeht. Ich bin ein Digital Emmigrant, weil ich offenbar eine Fähigkeit nicht besitze (und auch nicht besitzen will): Die des Verlernens. Kathrin Passig schreibt zu schön am Ende ihrer vielbeachteten Kolumne:
Wer darauf besteht, zeitlebens an der in jungen Jahren gebildeten Vorstellung von der Welt festzuhalten, entwickelt das geistige Äquivalent zu einer Drüberkämmer-Frisur: Was für einen selbst noch fast genau wie früher aussieht, sind für die Umstehenden drei über die Glatze gelegte Haare. So lange wir uns nicht wie im Film Men in Black blitzdingsen lassen können, müssen wir uns immer wieder der mühsamen Aufgabe des Verlernens stellen. Mit etwas Glück hat der Staat ein Einsehen und bietet in Zukunft Erwachsenenbildungsmaßnahmen an, in denen man hinderlich gewordenes Wissen – sagen wir: über Bibliotheken, Schreibmaschinen, Verlage oder das Fernsehen – ablegen kann.
Verlernen sollen wir – hinderliches Wissen – über Bibliotheken und so. Und wir sollen es lernen zu verlernen. Der Staat soll Förderprogramme zum Verlernen des Erlernten anbieten. Macht er ja schon – heißt manchmal Schule. Gerade beim letzten Satz Passigs könnte ich schreiend aus dem Klassenzimmer laufen.
Woher kommt denn das Wissen, was im Netz kursiert? Was davon ist tatsächlich generiert? Läuft es im Gegenteil nicht manchmal so, dass z.B. „Bibliothekswissen“ im Netz fragmentarisiert wird, um dann unter großem „Juchuu-Geheule“ in der Web2.0‑Gemeinde aus den verstreuten Bruchstücken wieder rekonstruiert zu werden?
Wissen kommt nicht aus dem Netz, es hat seinen Ursprung in der Welt, ob nun Forschergruppen experimentieren oder in den Geisteswissenschaften neue Sachverhalte durch Rekombination alter Quellen erschließen, ob Welt im Sinne eines neu verstandenen Journalismus distribuiert wird usw.. Das Netz ist erstmal nichts. Das Netz ermöglicht lediglich andere Formen des Informationsaustausches, andere Formen der Zusammenarbeit. Wissen schafft es allenfalls indirekt, indem neue Wege der Wissensdistribution erschlossen sind. Das ist für mich die wahre Leistung des Netzes: Die Revolution der Distribution und der Kommunikation.
In dieser Argumentation brauche ich keinen Mythos mehr, ich brauche keine alte Literatur mehr, ich brauche nicht mehr zu wissen, woher ich geistesgeschichtlich komme. Telefon brauche ich auch nicht, Handys sowieso nicht. Dieses Wissen hindert mich ja nur, das neue Wissen anzunehmen. Denn der Speicherplatz meines Kopfes ist zu beengt, um alles zu wissen. Wenn also was Neues rein soll, muss etwas anderes wieder raus.
Ich habe meinen ersten Rechner mit 14 Jahren erhalten. Es war ein Amiga500 mit 68000er-Prozessor. Auf dem habe ich hauptsächlich gespielt. Aber ich habe auch einen Vokabeltrainer in AmigaBasic geschrieben oder einfach Grafikroutinen in Assembler programmiert. Dabei habe ich etwas über Rechner gelernt, über ihre Funktion und ihre Ursprünge. Mir und anderen aus der Zeit jucken die Finger, uns wieder so eine alte Brotkiste zuzulegen, uns zu nostalgisieren.
Heute verwalte ich Server, hauptsächlich Serverdienste wie lighty, MySQL, slapd, Squid… Ich weiß, wie ich eine neue Applikation in meine Infrastruktur integriere, ich weiß, wo und wie ich serverseitig optimieren kann. Und ich kann auch recht unelegante – wer AmigaBasic kennt, kann sich meinen „Programmierstil“ in etwa vorstellen , OO gab es da eher nicht, aber immerhin schon functions… – Skripten schreiben, um Schnittstellen zwischen eigentlich inkompatiblen Systemen zu schaffen.
Das habe ich nicht durch iPhone-Apps oder WordPress-Nutzung gelernt. Heute gilt man ja manchmal schon als Gott im Olymp der Serverwartung, wenn man WordPressplugins installieren oder Themes ändern kann. Wenn ich mal die Gelegenheit bekomme, mir Serverkonfigurationen von oft selbsternannten „Profis“ anzuschauen, ähnelt das machmal einem Trip ins Grauen, in die Niederungen des Unwissens. Wenn das Web2.0 ein weites Meer ist, sitze ich in einem U‑Boot darunter und sehe dadurch andere Dinge. Ich kann und muss auch an die Oberfläche, fühle mich da aber nicht sehr wohl.
Ich bin froh, dass ich immer noch weiß, wie Rechner und Dienste zusammenspielen. Ich bin froh darüber, weil mich dieses Wissen unabhängig von „Profis“ macht, weil es mir ermöglicht, konzeptionell und technisch Neues zu schaffen und nicht nur inhaltlich-methodisch mit immer neuen Medien operieren zu müssen, die wie Pilze aus dem Boden schießen, anstatt diese Medien zu gestalten und zu funktionalisieren. Nein, ich will nicht verlernen. Ich kämme weiter die drei Haare über meine Glatze und wer mich in Natura kennt, versteht allein die doppelte Ironie dieses letzten Satzes.
Und ja: Mir macht die Forderung nach dem „Verlernen“ Sorge, die Forderung nach lebenslangem Lernen dagegen nicht. Ich glaube an meinen Geist.
Das obige Zitast von K.Passing wäre auch ein schönes Beispiel für Web2.0‑Poesie (siehe http://subtexte.blogspot.com ), wenn nicht eine gehörige Portion Ironie mitschwingen würde. Im Zusammenhang mit der gesamten Kolummne erscheint mir der Vorschlag am Ende eben nicht so ganz ernst gemeint :-)
Danke für den schönen Artikel.
Schön, ja. Wenn ich mich auch nicht mit Server auskenne: mein Wissen kommt auch nicht aus dem Web, so toll ich es auch finde.
@Detlef
Das hatte ich ja auch erst gedacht – das mit der Ironie. Aber es gibt so viele weitere Leute, die die Geschichte mit dem „Verlernen“ ganz ernsthaft vertreten – außerhalb von Glossen und Kolumnen. Gerade im Kontext mit „Bilbliotheken“, „Verlagen“ und „Fernsehen“. Zum Glück bin ich immer ganz unironisch gerade heraus…
@Maik
Da stimme ich Dir zu und halte derartige Forderungen aber auch definitiv für Unsinn.
Zum Einen regelt sich die Medien-Nutzung durch die Praxis selbst – da muss weißgott keiner nachhelfen und schon gar nicht in „Verlernkursen“ – das Verlernen findet schon so in rasanter Weise statt, indem eben neue Mediennutzer nachwachsen.
Zm Anderen halte ich solche Sprüche für Unsinn, weil unterstellt wird, dass die neuen Techniken „besser“ sind. Sie sind fürwahr eine Bereicherung, aber eben nur EINE Möglichkeit, die zu nutzen ist. Zweifelhaft finde ich z.B. den Begriff „Kreidezeit“ für Unterricht, der auf den Einsatz von Web2.0 und Co. verzichtet. Die Qualität von Unterricht misst sich an anderen Parametern. Web2.0 kann bereichern, aber es geht natürlich auch ohne …
Das schreibe ich, der (wage ich mal zu behaupten) an meiner Schule am meisten das Internet in seinen Unterricht holt: aber es gibt keinen Grund, warum das andere Kollegen auch machen sollten, die machen ihren Unterricht mit Sicherheit nicht schlechter. Wichtig ist, dass man als Lehrer authentisch ist. Web2.0 ist mein Ding und die Schüler haben eben auch nicht das Gefühl, da kommt einer, der uns da jetzt was erzählen will, aber keine Ahnung hat oder nicht dahinter steht. Und daher ist es in der SChule einfach entscheidend, dass man das, was man tut, vernünftig tut und dahinter steht.