Warum Rechtschreibleistungen nachlassen
Gerade wurde bei uns in den 5. Klassen ein Vergleichsdiktat geschrieben. Mit den Jahren fallen diese Diktate nicht besser aus, obwohl ich mir einbilde, dass die Diktattexte selbst immer leichter werden. Meine begrenzte Ursachenfoschung an dieser Stelle entbehrt jedweder Wissenschaftlichkeit, hilft mir aber bei der Aufrechterhaltung meines subjektiven Weltbildes. Wo sehe *ich* Ursachen?
1. Schriftlichkeit – Mündlichkeit
Vor 15 Jahren war noch alles gut. Es gab eine geschriebene Sprache und es gab eine gesprochene Sprache. In Briefen schrieb man überwiegend Schriftdeutsch, sogar auf Urlaubskarten (ganze Sätze, grammatische Sätze usw.). Es gab auch schon einzelne Ansätze, das nicht zu tun, z.B. auf Gruß- oder Glückwunschkarten. Aber im Großen und Ganzen sprang das Relais mit der Aufnahme eines Schreibgerätes auf den „Schreibmodus“ um, d.h. mündliche Sprache war von der schriftlich formal-sprachlich klar unterschieden.
Die Begriffe Mündlichkeit und Schriftlichkeit sind heute „out“, hinweggefegt von den immensen technischen Entwicklungen. Heute sollte man nach Koch/Oesterreicher eher von konzeptioneller Schriftlichkeit und konzeptioneller Mündlichkeit reden, die Kategorisierung also vom Medium abkoppeln. Eine vorbereitete, auswendig gelernte Rede ist dann konzeptionell schriftlich, weil sie anderen formalen und sprachlichen Vorgaben folgt als eine Unterhaltung. Ein Chat ist dann eher konzeptionell mündlich, da er zwar „geschrieben“ wird, jedoch im Wesentlichen mündliche Züge trägt, d.h. gesprochene Sprache quasi transkribiert.
Damit verschwimmen die Grenzen zwischen Schriftsprache und gesprochener Sprache mehr und mehr. Da das Relais beim Chat oder in der SMS nicht klackt, klemmt es dann u.U. auch beim Deutschaufsatz. In schier unlösbare Konflikte stürzt man dann SuS in einem Diktat: Sie hören die Sprache und sollen sie in einer vorgebenen Zeit x schreiben. Sie hören sie aber anders als die Orthografie möchte, dass sie sie hören. Da kommt das Relais in den Flattermodus. Da wird aus einem „alter, lahmer Dackel“ schon einmal „alta, Lama Dackel“. „alta“ würden sie zu allem Übel in einem Chat oder einer SMS sogar schreiben…
2. Das Verschwinden der Schrift aus dem Alltag
Ich wurde noch genötigt, meinen ganzen Verwandten Urlaubskarten zu schreiben. Ich musste auch noch in die Stadt, um zehn verschiedene Teile einzukaufen, wozu es einen Zettel brauchte – einen selbst geschriebenen. In meinem Alltag als Kind musste ich viel mehr schreiben als ich es heute als Erwachsener außerhalb meiner Arbeitswelt tun muss und war dadurch mit Schriftsprache mindestens 2–3x die Woche rein praktisch konfrontiert. Schule – ok. Das musste man halt. Briefe, geschriebene Briefe waren in meiner Jugendzeit immer noch üblich. Und ein: „Moin Aller“ als Anrede oder ähnliche Sprachkonstruktionen zeugten in gehäufter Manier eher von einer Missachtung der angesprochenen Person. Daher dosierte man. So etwas wie ein „hihi…“ kam aber schon vor. In E‑Mails unter „Peers“ geht das heute schon eher durch. Konzeptionelle Mündlichkeit.
3. Das schwindende (Vor-)Lesen
Wir tun als Lehrende oft so, als könne man Rechtschreibung lernen. Daran glaube ich. Allerdings glaube ich nicht, dass wir Rechtschreibung primär durch unzählige Zettel mit unzähligeren Beispielen oder Lücken lernen. Daran ändern für mich auch neue Aufgabenformen, z.B. die Wortschatzarbeit oder die Arbeit mit Wortfamilien nichts. Wenn ich nicht weiß, wie ein Wort geschrieben wird, dann schreibe ich es auf, schaue es an, schreibe ggf. noch eine zweite Version und vergleiche. Zu 99% entscheide ich dann per Intuition. Rechtschreibung ist für mich zu 70% ein intuitiver Akt – wobei mir meine Intuition auch ganz schön viele Streiche spielt, z.B. bei intellektuell (interlektuell), standardisieren (standartisieren) oder Reflexion (Reflektion) – da wäre ich mit Wortstämmen – also Zetteln – weitergekommen… Ich bilde mir ein, dass diese Intuition als Hauptpfeiler meiner eigenen Rechtschreibkompetenz (hier im Blog gibt es aber durchaus Fehler) zum großen Teil auch darin begründet liegt, dass ich sehr viel in jungen Jahren gelesen habe. Ich bilde zusätzlich ein, dass die Rechtschreibleistung von Kindern, denen viel vorgelesen wird, besser ist. Das ist aber nur so ein Gefühl.
Können wir das schaffen?
Als Schule alleine können wir das – so glaube ich – nicht schaffen. Schule weicht daher völlig logisch didaktisch vor diesem Problem zurück, indem sie es vorzugsweise in der Zeit der Textverarbeitung mit den roten Schlangen nicht mehr zum Problem erklärt. Da ist es als Gymnasiallehrer leicht, vereint mit den Grundschulpädagogen auf die neuen didaktischen Ansätze und z.B. das Verbot von nicht geübten Diktaten an Grundschulen einzuschlagen (oder das Verbot von Diktaten an Grundschulen überhaupt). Ich denke, dass wir damit zu spät kommen. Die Ursachen sehe ich nicht in den didaktischen Konzepten, sondern hauptsächlich in den drei oben aufgeführten – unwissenschaftlichen – Punkten. Von dieser Didaktik mag eine Signalwirkung ausgehen. Vielleicht ging aber auch von den zunehmenden Problemen im Bereich der Rechtschreibung genau diese Didaktik aus – wer weiß das schon…