Textformen im Abitur
Im Abitur kommt ja meist nur eine begrenzte Anzahl möglicher Aufsatzformen vor. Das Spektrum öffnet sich zwar gerade durch das vermehrte Einbrechen von kreativen Textformen „Schreiben Sie eine Rezension…“, die aber letztendlich nur eine „authentizitierte“ Form von in der Schule vermittelten Grundformen darstellen – auch in einer Rezension muss ich stellenweise erörtern oder interpretieren.
Folgende Aufgabe haben meine SuS heute erhalten:
Ordnen Sie die unteren, fiktiven Ausschnitte einer Aufsatzform (Interpretation, Analyse, Inhaltsangabe, kreative Aufsatzform, Erörterung) begründet zu:
Der Text gliedert sich in drei Abschnitte. Im ersten stellt der Autor eine Analogie zwischen Sprache und Natur her, indem er die Entwicklung von Sprache mit der Entstehung eines Wegenetzes am einem Universitätgelände vergleicht. Dabei verwendet er eine bildreiche Sprache, wobei Teile des Bildes immer mit tatsächlichen Gegebenheiten verknüpft sind. So stehen die „ökonomisch generierten Wege“ (Z.16) in direkter Beziehung zu…
Zunächst ist anzuführen, dass die gebotene Analogie zwischen einem Wegenetz und der Entwicklung des Deutschen unter dem Einfluss einer globalisierten Welt nicht ohne Weiteres haltbar ist. Zwar könnte man argumentieren, dass „physische Bequemlichkeit“ (Z.5) auch sprachgeschichtlich ein Antrieb für z.B. Lautveränderungen gewesen sind, dabei bleibt aber außer Acht, dass die heutigen Einflüsse weit über den physischen Aspekt hinausgehen und so mancher Anglizismus keineswegs einen sprachökonomischen Fortschritt bedeutet. Oder ist etwa die Lautung von „Assessment Center“ für den durchschnittlichen deutschen Sprachapparat leichter zu realisieren als „Beratungsbüro“?
Der Text möchte den den Rezipienten vor allem darauf stoßen, dass Analogien ein probates Mittel zur Erklärung des deutschen Sprachwandels darstellen. Dazu wird vor allem Wortmaterial aus dem Wortfeld der Natur verwendet. „Weg“, „Blatt“ oder „Baum“ (S.45, Z.12) sind diesem Wortfeld zuzuordnen. Dieser Eindruck entsteht zusätzlich durch den organischen Satzbau, der ebenso wie das beschriebene Wegenetz eine schwer durchdringliche hypotaktische Struktur aufweist, die selbstreflexiv auf ebendieses rekurriert.
- Der Text gliedert sich in drei Abschnitte. Im ersten stellt der Autor eine Analogie zwischen Sprache und Natur her, indem er die Entwicklung von Sprache mit der Entstehung eines Wegenetzes am einem Universitätgelände vergleicht. Im zweiten wird das Beharren der deutschen Sprachpfleger auf der standardisierten Schriftsprache kritisiert, die sich den neuen Entwicklungen dem Autor nach verweigerten. Sie sähen nicht ein, dass der Prozess unaufhaltsam voranschreite.
- Sprache ist ein Flussdelta. Wie das Wasser des Amazonas sich immer neue Arme gräbt, so höhlt auch Sprache althergebrachte Strukturen aus, wäscht längst vergessene Findlinge frei und trägt lockeren Sand weit auf das Meer hinaus. Sprache meint Veränderung. Sprache meint Fluss und Fluss ist das eigentliche Wesen von Sprache. Ohne Dynamik keine Veränderung, ohne Veränderung keine Abwechslung ohne Abwechslung Stillstand im Tode.
Schwierig wird es eigentlich nur bei der Unterscheidung zwischen Analyse, Interpretation und Inhaltsangabe. Beispiel (2) ist leicht als argumentierender Text zu erkennen (selbst das Verb „argumentieren“ steht ja dort) und Beispiel (5) ahmt offensichtlich in einer Art Paralleltextform die Trampelpfadmetapher in einem anderen Bildbereich nach.
Eine Inhaltsangabe (4) gibt lediglich Grundgedanken des Textes wieder. Dabei erfolgt keine Ausdeutung möglicher Intentionen, Fremdmeinungen werden durch distanzierende Äußerungen oder die indirekte Rede gekennzeichnet. Die Inhaltangabe darf meiner Meinung nach aber durchaus – genau wie die Analyse (1) den Text auch in seiner grundsätzlichen Struktur beschreiben.
Die Analyse (1) unterscheidet sich von der Interpretation (3) durch einen – wie der Namen schon sagt – mehr analytischen Zugang, d.h. der Schwerpunkt liegt mehr darauf, sprachliche und formale Besonderheiten zu erfassen und ggf. bereits zu kategorisieren. Wer in einer Analyse viel sieht und z.B. auch eher seltene Stilfiguren nachweist, wird hier überzeugen.
Eine Interpretation (3) ist durch eine tragende Hypothese gestützt und verbindet Form und Inhalt. Eine Schülerin sagte heute, dass eine Interpretation im Gegensatz zur Analyse den Schwerpunkt auch auf Aspekte legt, die im Text nicht dezidiert vorhanden sind. Ein Oxymoron bleibt ein Oxymoron, aber ein Oxymoron kann in Text A eine andere Funktion als in Text B aufweisen, ist eben kontextuell interpretierbar.
Achja – in Reinform ist für mich keine außer der kreativen Aufsatzform authentisch, sondern schulisch. Dennoch halte ich das Einüben dieser Reinformen für wichtig, da nur ein starkes Skelett einen Körper letztendlich trägt. Oberstufenunterricht bedeutet für mich, diese Reinformen den Fähigkeiten des jeweiligen Schülers/der jeweiligen Schülerin anzupassen, sprich zu „authentizitieren“.