Demaskierung des Bewusstseins
Diese Wortkombination taucht bei Horvath auf und zwar in seinem Prosatext „Gebrauchsanweisung“ (in: Horvath, Ödön von: „Sportmärchen“, Gesammelte Werke, Bd. 11, S. 215, Traugott Krischke & Susanna Foral-Krischke (Hrsg.), bei: Suhrkamp, F.a.M, 1988). Sie ist eine grundlegende Phrase zum Verständnis des betreffenden Textes, der im Wesentlichen Horvaths Auffassung vom einem Volksstück bzw. einem Volkstheater darlegt.
Die Zusammenstellung der Begriffe verwirrt auf den ersten Blick: „Bewusstsein“ lässt sich zumindest intuitiv noch fassen, „Demaskierung“ sogar recht einfach definieren, aber was bitteschön ist ein demaskiertes Bewusstsein?
Ich bin im Unterricht zunächst von dem Begriff des Bewusstseins ausgegangen und habe mich diesem in einem Unterrichtsgespräch genähert. Dabei kamen die SuS sehr schnell darauf, dass zwei verschiedene Ausprägungen von Bewusstsein unterschieden werden müssen:
a) individuelles Bewusstsein
Nach erfolgreicher Identitätsfindung weiß ein Individuum um sich selbst, z.B. um Stärken, Schwächen, um die Grenzen des eigenen Wissens usw.
b) kollektives Bewusstsein
Eine Gruppe von Menschen – das kann eine gesellschaftliche Klasse (Klassenbewusstsein) oder ein ganzes Volk (Nationalbewusstsein) sein. Dabei ist man sich einig über die eigene Herkunft, bestimmte Werte, die diese Gruppe verbinden usw.
Im ersten Schritt ist für die Auflösung der rätselhaften Wortzusammenstellung nur die zweite Variante zielführend, da sich Theater in der Regel an ein Publikum, also eine breitere gesellschaftliche Masse richtet. Für Horvath sind dies vor allem „vollendete[] oder verhinderte[] Kleinbürger“ (S.219 oben). Damit geht es also um die Demaskierung eines kleinbürgerlichen Bewusstseins. Das hört sich doch schon besser an.
Horvath gibt eine konkretes Beispiel dafür, wie diese Demaskierung funktionieren kann:
Es wird ein Kommunist auf der Bühne ermordet in feiger Weise von einer Überzahl von Bestien. Die kommunistischen Zuschauer sind voll Haß und Erbitterung gegen die Weißen – sie leben aber eigentlich das mit und morden mit und die Erbitterung und der Haß steigert sich, weil er sich gegen die eigenen asozialen Wünsche richtet (S. 217 Mitte)
Die Kommunisten haben u.U. Mordgedanken gegenüber den z.B. Liberalen oder empfinden Hass. Ihr kleinbürgerliches Bewusstsein verhindert jedoch das offene Ausleben dieser „asozialen Triebe“, aber das Theater tut es gewissermaßen stellvertretend für sie, weil es Erbitterung und Hass gewissermaßen gegen sich selbst zurückwirft. Man ist „beherrschter Kleinbürger“, verfügt aber trotzdem über die gesamte Spannbreite archaischer Gefühle, die jedoch – und jetzt sind wir am Ziel – im Alltag durch das kleinbürgerliche Bewusstsein maskiert sind. Er ist nichts „Besseres“ als der ach so affektiv handelnde Mensch aus der Unterschicht, obwohl sein Klassenbewusstsein ihn eben genau das glauben machen möchte.
Horvath möchte nach eigenem Bekunden – so verstehe ich seinen Ansatz zumindest – genau an dieser Stelle ansetzen. Dabei verwendet er z.B. in den „Geschichten aus dem Wiener Wald“ mindestens zwei unterschiedliche Techniken:
a) Bruch zwischen innerer und äußerer Welt
Es wird z.B. in der Szene „An der blauen Donau“ eine idyllische äußere Welt konstruiert, die den Bedürfnissen eines kleinbürgerlichen Zuschauers entgegenkommt: Spielende Kinder, ein Picknickkorb, Decken, Badelust, Fotoarrangements usw. – eben alles, was das kleinbürgerliche Herz begehrt.
In der Sprache wird dagegen offene Gewalt erkennbar. Das erstreckt sich aber auch auf das Handeln der Figuren, wenn etwa die lebhaften Kinder grob für das idyllische Foto arrangiert werden.
b) Bruch zwischen im kleinbürgerlichen Jargon Gesagtem und dem eigentlich Gemeintem
Dazu ein kleiner Ausschnitt aus den „Geschichten aus dem Wiener Wald“:
OSKAR Was denkst du jetzt?
MARIANNE Oskar, wenn uns etwas auseinanderbringen kann, dan bist du es. Du sollst nicht
so herumbohren in mir.
OSKAR Jetzt möcht‘ ich in deinen Kopf hineinsehen können, ich möcht dir mal die Hirnschale
herunter und nachkontrollieren, was du da drinnen denkst.
Oskar – treffenderweise ein Schlachter – ignoriert einfach die Bedürfnisse seiner Angebeteten Marianne, er setzt sogar noch einen darauf, indem er das Bohren gleich durch eine halbe Sektion des Kopfes ersetzt. Diese Beziehung hat so wahrlich keine Zukunft, obwohl sie noch gar nicht begonnen hat. Vom Frauenbild, das Oskars Haltung zugrundeliegt, muss hier ganz geschwiegen werden.
Das Bild mit der Hirnschale könnte witzig sein – tatsächlich hat das Publikum an dieser Stelle unserer Schulaufführung gelacht. Dieses Lachen bleibt einem jedoch sehr schnell im Halse stecken. Diesen Prozess halte ich für integral bei der semantischen Bestimmung der „Demaskierung von Bewusstsein“. Das Lachen erstirbt, weil die Maske fällt.
Mit den richtigen Begriffen können SuS in einem Unterrichtsgespräch untereinander die Demaskierung des Bewusstseins bei Horvath selbstsständig unter Einsatz von LdL-Elementen visualisieren. Mögliche Begriffe sind z.B.: Publikum, Demaskierung, Theater, Bewusstsein usw.) Meine Gedanken dazu stammen im Übrigen genau aus diesem Prozess, der bei mir im Deutschkurs letztlich zu einem Tafelbild führte, was die SuS gestaltet haben und mit dem ich sehr gut leben konnte. Einmal mehr kam es dabei auf die Beschriftung der Pfeile zwischen den Begriffen an. Daran kann man sich lange aufhalten, bis alle zufrieden sind.
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