Sprache als Verräter
… nur dekodieren muss man sie. Hier ein Ausschnitt aus „Kabale und Liebe“ von Friedrich Schiller:
PRÄSIDENT. Und ich dachte, sie bliebe ganz weg. Dummer Teufel, was verschlägt es denn ihm, ob Er die Karolin frisch aus der Münze oder vom Bankier bekommt. Tröst Er sich mit dem hiesigen Adel; – Wissentlich oder nicht – bei uns wird selten eine Mariage geschlossen, wo nicht wenistens ein halb Dutzend der Gäste – oder der Aufwärter – das Paradies des Bräutigams geometrisch ermessen kann.
aus dem 1. Akt, 5. Szene
Die Rede ist hier von einer Frau, die der Gesprächspartner des Präsidenten – der Sekretär „Wurm“ – zu erlangen sucht. Sie ist die „Karolin“, eine Ende des 18. Jhd. gebräuchliche Münze, sie trägt das „Paradies des Bräutigams“, was „ein halb Dutzend“ Männer vor der Hochzeit in der adeligen Sphäre „geometrischermessen“ haben. Otto Waalkes hat dazu passend bereits gedichtet:
Mein Liebchen hat so etwas, das ist so fein und süss
und diese kleine Etwas das ist mein Paradies
ja diese kleine Etwas, ist meines Liebchens Mund
und wer was andres dachte, der ist ein Schweinehund
Die Frau ist halt dann schon nicht mehr unverbraucht und das sollte doch nach Ansicht des Sprechers kein Hindernis darstellen.
SuS lesen über diese Dinge nach meiner Erfahrung gerne hinweg, weil ihnen die Sprache nicht geläufig ist. Es hilft dann, im Stil eines Parallelgedichts eine derartige Stelle mit einem kritischen Kommentar bewaffnet, wie man ihn in jeder Gesamtausgabe von Schillers Werk findet, in das heutige Deutsch übersetzen zu lassen.
In dieser einen Stelle manifestiert sich ein Kern von Schillers Gesellschaftskritik, die frauenverachtende Haltung der Herrschenden. So etwas an Hand einer Aussage eines Herrschenden über Frauen derart überspitzt zu tun, muss zur damaligen Zeit auf der Bühne ungeheuerlich gewirkt haben – dort verstand man mit Sicherheit den Code dieses Textes.
Das gleiche Prinzip wiederholt sich in Schillers Text unzählige Male, wenn man bereits ist hinzuschauen. Und nicht nur in Schillers Text: Z.B. auch Horvath bedient sich viel später in den „Geschichten aus dem Wienerwald“ genau dieser sprachlichen Mittel.
Einmal sensibilisiert, wollen SuS hinschauen, weil diese Form von „sprachlicher Gewalt“ gerade gegenüber Frauen in unserem Alltag immer noch präsent ist. Damit haben wir alles, was man für eine gelungene Einheit braucht: Einen exemplarischen Text, der unzählige Bezüge zu anderen Texten und zum tatsächlichen Alltag der SuS zulässt, der eben vernetztes Denken fördert.
Gleichzeitig werden mit dem Bereich der Sexualität existentiell wichtige Bedürfnisse angesprochen. Deswegen lese ich „Klassiker“ (ungleich klassisches Drama) gerne – auch wenn sie verstaubt und altbacken erscheinen mögen. Hinter dem Vorhang ihrer alten Sprache erschließt sich eine oft unvermutete Welt.