Blogossphäre und Wissensentropie
Ausgangslage:
Ich bin überfordert, den vielen Gedanken zu folgen, die sich inhaltlich mit den meinen überschneiden. Damit meine ich insbesondere viele Blogs, deren Feed ich abonniert habe. Auch die Mixxt-Gruppen neuron, ldl, und maschendraht spiegeln diesen Umstand wieder. Die Fülle an Impulsen, der Fortschritt an Wissen ist unbestreitbar vorhanden, aber er ist diffus. Jean-Pol hat das bereits mehrfach festgestellt.
Ich kann nicht einmal alle Blog verlinken, die ich für wichtig halte. Ich kann nicht so kommentieren, wie ich es für wichtig halte. Verlinkung und Kommentare sind ja kleine Zeichen der Wertschätzung.
Ursache:
In der physikalischen Chemie gibt es die Kunstgröße der Entropie. Sie ist – sehr vereinfacht gesagt – ein Maß für die Unordnung in einem System – eigentlich ist sie eine Zustandsgröße. Eine hoher Ordnungsgrad bedeutet dabei immer auch einen höheren Energiegehalt. Genau aus diesem Grund werden Arbeitszimmer immer unordentlich – hohe Entropie ermöglicht Energiegewinn. Deswegen zerbrechen Beziehungen gelegentlich: Das Zwischenmenschliche erfordert oft einen gewissen – energieaufwändigen – Ordnungsgrad, den die Partner aufbringen müssen.
Folgen:
Ich muss zur Zeit in das Diffuse etwas mit hoher Entropie unter erheblichen Energieaufwand Ordnung hineinbringen. Das System liefert immer noch mehr als es zieht, aber die Effizienz empfinde ich noch als miserabel.
- Warum muss jeder für sich diese Ordnung herstellen?
- Warum gibt es viele Blogs mit den gleichen ethisch-pädagogischen Grundlagen?
- Warum gibt es drei verschiedene Netzwerke?
Ich weiß die Gründe: Es geht um Individualität – ein Grundbedürfnis von Individuen, aber auch Gruppen.
- Warum führen wir unsere Gedanken nicht zentral an einem Ort zusammen?
- Warum diskutieren wir nicht dort, wo der Wissensprozess abläuft?
- Warum nehmen wir z.B. nicht allein unser Menschenbild als kleinsten, gemeinsamen Nenner? Wir können es auch humanistische Pädagogik nennen.
- Was ist für Außenstehende attraktiver? Eine Webseite mit stündlicher Flowabbildung oder viele mit wöchentlicher?
Ich träume von einem „event horizon“ des Guten (der gleichnamige Film führte ja zu einem anderen Ergebnis). Dank technischer Errungenschaften müsste niemand dabei seine Individualität aufgeben – es kursiert gerade die Idee eines Blogplanets, der genau das ermöglicht und die Reichweite unserer Gedanken für die „Nicht-Eingeweihten“ in diesem Denkzirkel durch Effizienzerhöhung erleichtert. Im Prinzip wäre das zentral verlinkte Individualität und die Möglichkeit ist gegeben Flows auch für außenstehende Menschen abzubilden.
- Wie weit sind diese Gedanken den Prozessen in so manchem KM – vielleicht anscheinend – voraus?
- Wie groß ist der Preis der (klischeelehrerhaften) Individualität?
Wir dichten und denken noch. Wir brauchen aber angesichts der Lage Freiräume für den Sturm auf die Bastille – wenn dieser überzogene, blumige Vergleich gestattet ist.
In evolutionären Prozessen sind individualisierte, hochspezialisierte Systeme auf Dauer nicht erfolgreich. Sind wir Lehrende ingesamt gerade besonders erfolgreich? Das führt mich zum sehr erfolgreichen Prinzip des Metaorganismus – dem Schwarm, der eben sowohl eins als auch viele ist. Vielleicht sind die vielen bestehenden Blogs und Communities schon potentielle Teile des Ganzen und werden als Schwarm rezipiert. Vielleicht auch nicht. Man müsste mal jemanden fragen, der sich damit nicht auskennt.
Heidenei, das sind aber viele verschiedene Fragen. Gute Fragen. Auf viele davon habe ich keine Antwort. Aber mal sehen:
„Warum führen wir unsere Gedanken nicht zentral an einem Ort zusammen?“
Weil nicht alle meine Gedanken dorthin gehören und ich mir nicht die Mühe machen will, zu entscheiden, was wohin gehört. Mein Blog ist nicht nur (und vielleicht noch am wenigsten) Teil einer pädagogischen Diskussion, sondern ein Teilprofil meiner Selbst, vielleicht auch ein Portfolio. Mein Blog lesen mein Vater und einige wenige Eltern meiner Schüler – für allgemeine Bildungsdiskussionen interessieren die sich nicht genug, und müssen das auch nicht.
Vielleicht ist das Blog-als-Portfolio aber auch tatsächlich ein Auslaufmodell.
„Warum diskutieren wir nicht dort, wo der Wissensprozess abläuft?“
Mir liegt schon seit langem ein Blogeintrag in der Feder zu der Frage, wo mein Wissen eigentlich herkommt. Bei mir dürfte das tatsächlich nicht zum Großteil das Web sein, sondern Bücher und Gespräche mit den Kollegen. Wo läuft denn der Wissensprozess ab? In Blogeinträgen und Kommentaren – dann ja, warum nicht ein gemeinsames Forum statt einzelner Blogs? (Oder, am besten, die Möglichkeit, sich die Einträge und Kommentare in vernetzter Form präsentieren zu lassen – Trackbacks und Tags sind ja nur der erste Anfang für so etwas.)
„Warum nehmen wir z.B. nicht allein unser Menschenbild als kleinsten, gemeinsamen Nenner?“
Ich weiß nicht, ob ich dann mitspielen dürfte. :-) Oder :-( ? Mein Menschenbild ändert sich immer noch und schwankt zwischen Nathan und Candide.
„Was ist für Außenstehende attraktiver? Eine Webseite mit stündlicher Flowabbildung oder viele mit wöchentlicher?“
Gute Frage. Für meinen Vater und diejenigen meiner Schüler, die nur aus persönlichen Gründen mein Blog lesen: Weder noch. Für andere: Vermutlich die stündliche.
Entropie: Wunderbare, fundamentale Sache, die ich immer noch nur halb begriffen habe. (Da hilft es wenig, wenn die Entropie in der Thermodynamik und bei der Information unterschiedliche Vorzeichen haben.)
Zum Thema Blogs und nicht alles gehört… Das sehe ich für mich genauso – dabei weiß ich nicht einmal genau (noch weniger als du), wer mein Blog liest.
Ein Großteil machen zur Zeit niedersächsische SuS und LuL aus – die Themen zum Zentralabi „ziehen“ doch erheblich: Was ja niemand vorher ahnen konnte :o)…
Hier trägt gerade wer einen Flow zusammen:
http://protopage.com/dsd-info
Es müsste vielleicht zu einen Button geben: „Dieses Geschreibsel jetzt aggregieren ja/nein“.
Vielleicht ist es aber auch gut so, wie es ist und mir geht es im Grunde um die allgemeine Herausforderung der deutschen Lehrerendenindividualität, die nur stellenweise gut und arbeitsentlastend ist.
Ich habe die gute alte Entropie gerade im Dezember in einem Anfall von Wahnsinn für ein System elektrochemisch bestimmt. Anschaulicher ist die Größe dadurch trotzdem nicht geworden – vielleicht ein wenig realer.
„Lehrerendenindividualität, die nur stellenweise gut und arbeitsentlastend ist“ – zumindest die Sprachenlehrern schaffen es ja nicht mal richtig, mit einem (wenn auch nicht perfekten) Buch zu arbeiten, sondern müssen alles selber machen…
Mir geht es grundsätzlich genauso. Momentan (seit einigen Tagen, seit ich in Twitter eingestiegen bin und seit ich beim Lehrerfreund ungefähr zehn neue Lehrerblogs entdeckt habe, die ich schon jetzt nicht mehr missen möchte) ist die Frequenz, mit der interessanter und anregendenr Input reinkommt enorm gestiegen. Nicht umsonst sitze ich jetzt um 0.30 Uhr noch hier und schreibe diesen Kommentar.
Auf die Fragen von mir nur Versuche von Antworten oder Gegenfragen.
Weil die Ordnung für jeden anders aussieht? Weil der Prozess der Konstruktion von Ordnung genauso wichtig ist, wie das Ergebnis?
Weil wahrscheinlich zu Beginn bei der Gründung gar nicht klar ist, was aus dem Baby wird, wohin es sich entwickelt, ob es sich überhaupt entwickelt. Man kann ja erst im Nachhinein feststellen, dass das Überschneidungen vorhanden sind – bevor der erste Post geschrieben ist, kann das ja keiner Wissen – nur ahnen oder hoffen, aber daraus lässt sich ja noch keine gemeinsame Zukunft bauen.
Ich würde Dir zustimmen, was die Individualität betrifft. Auch Herrn Rau stimme ich zu bezüglich „nicht alles gehört irgendwo hin“. Ich merke z.B. dass ich mein „altes“ Blog (andreas-kalt.de) im Grund abschreiben kann, weil ich mich eben nicht entscheiden kann, welcher Post dort und welcher auf rete-mirabile.net landen soll. Bei einer zentralen „Anlaufstelle“ wäre das Problem, dass es so viele Ordnungsmerkmale gäbe, dass irgendwer auf die Idee käme, das Ganze besser auf mehrere Sites aufzuteilen :-)
ABER: ich denke, das Stichwort Content Aggregation ist hier vielleicht der Schlüssel. Denn es wäre heute schon relativ problemlos möglich, z.B. mit Yahoo Pipes nur bestimmte Themen aus verschiedenen Sites zu „ziehen“ und sie auf einer gemeinsamen Plattform zusammen zu führen, zu ordnen und den „Nicht-Bloggern“ anzubieten. Die von Dir verlinkte Protopage sieht schon sehr interessant aus. Aus meiner Sicht wäre es noch besser, wenn man nur den Inhalt holen und anzeigen könnte, ohne das Layout zu benutzen – so ist es schon gut zusammen gestellt, aber immer noch zu sehr „getrennt“.
Ich habe jetzt mal grob versucht, mit Yahoo Pipes verstreute Inhalte zu aggregieren: Aus riecken.de, herrlarbig.de und fontanefan den Feed genommen und den Output auf das Wort „Medien“ gefiltert.
Ergebnis:
http://pipes.yahoo.com/retemirabile/lehrerblogsmedien
Pipes sind ein sehr mächtiges Werkzeug – da könnte man möglicherweise was draus basteln, was an einer Stelle viel interessantes zusammen führt.
Tolles Werkzeug, danke fürs Vormachen.
Pingback: Anonymous