Zum Schäkespears Tag
Ich muss ehrlich gestehen, dass ich im Grunde derartige Texte hasse. Glücklicherweise steht hier im Regal eine Goethe-Gesamtausgabe mit einem Kommentar von Erich Trunz – der wirklich sehr gut und hilfreich ist. Aber selbst der gute Erich schreibt:
Die Shakespeare Rede ist nicht ein Dokument literarischer Kritik, sondern ein feierndes Bekenntnis des Sturm-und-Drang-Goethe zu Natur und Genie, ein pathetischer Dank an den Genius Shakespear, durch den sich der eben aus Straßburg zurückgekehrte Dichter zu sich selbst erweckt und befreit fühlte.
in: Johann Wolfgang von Goethe – Werke (Hamburger Ausgabe), dtv, Bd. IIX, S. 691
„feierndes Bekenntnis“ und „pathetischer Dank“ – super. Das lässt stets auf einen durchstrukturierten Text schließen – er ist es tatsächlich natürlich nicht und darin liegt wohl auch seine Schwierigkeit. Hier einmal der Versuch einer Inhaltsangabe:
In seiner Rede „Zum Schäkespears Tag“ aus dem Jahre 1771 lässt der Autor Johann Wolfgang von Goethe seiner Bewunderung für das Werk und Wirken Shakespears freien Lauf im sprachlichen Stil des Sturm und Drang. Er stellt zur Verdeutlichung eine Opposition zwischen den dramatischen Leistungen Shakespears und denen der klassischen französischen Dramatiker auf. Goethe schließt seine Rede mit einem klaren Bekenntnis zum Theater Shakespeares.
Nach Goethes Auffassung ist das menschliche Leben zu kurz, um vollständig erfüllt zu sein. Es gebe allerdings unter den Menschen deutliche Unterschiede in der Art und Weise wie sie ihr Leben gestalteten. Ein Dichter wie Shakespeare sei dabei ein herausragendes Beispiel, weil seine Art von Dichtung dem Lesenden ein Blick darauf eröffne, wie Leben sein könne. Aufgrund dieser Fähigkeit gebühre Shakespeare höchste Anerkennung.
Eine entscheidende Rolle spielt dabei für Goethe, dass Shakespeare mit den Regeln des französischen Dramas bricht. Das klassische französische Theater sei in bloßen Formen erstarrt – namentlich den drei Einheiten von Ort, Zeit und Handlung – die einerseits nur wenig inhaltliche Varianz ermöglichten, andererseits dem eigentliche Vorbild, dem griechischen Drama, nicht mehr gerecht würden.
Innerhalb des griechischen Dramas wie auch in Shakespears Schriften sieht Goethe das Prinzip der Empfindung als einendes Band von Kunst in höchster Form verwirklicht. Shakespears Theater ermögliche durch seine Orientierung an dem Prinzip der Natur einen unverstellten Blick auf die Welt, der der damaligen Gesellschaft und auch vielen bedeutenden Persönlichkeiten – namentlich wird Wieland erwähnt – nach Goethes Auffassung nicht mehr möglich sei.
Diese Form von gesellschaftlicher Verblendung verstelle sogar ihm selbst den Blick auf die Genialität von Shakespeare, die sich oft erst nach mehrfacher Lektüre offenbare.
Goethes Rede schließt mit dem dringlichen Appell an seine Zuhörenden, sich den neuen Ideen Shakespears zuzuwenden und zu öffnen.
Nett sind in diesem Zusammenhang folgende Aussagen Goethes:
Griechischen! Ich kann mich nicht erklären, was das heißt […]
Goethe, Zum Shäkespears Tag
Er scheint also selbst nicht genau zu wissen, worüber er da eigentlich spricht – das ist argumentativ etwas suboptimal, da er selbst den Bogen vom griechischen Theater über die französische Klassik hin zu Shakespear spannt, d.h. erstes eigentlich den Ausgangspunkt seines Textes bildet.
Klar. Er meint natürlich die Synthese apollinischer und dionysischer Elemente in der attischen Tragödie, die Nietzsche später in seinem Werk „Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik“ so hervorheben wird. Weiß man eigentlich, dass Goethe weiß, dass er das meint?
Was mache ich jetzt mit dem Ding? Ach – interpretieren wir das einfach als typischen Text im Duktus des Sturm und Drang. Sprachlich und inhaltlich ist da ja schon einiges zu holen. Den Kommentar von Trunz erhalten die SuS dafür natürlich als Grundlage. Mal sehen, zu welchen Hypothesen sie kommen…
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Vielleicht hilft eine kluge Seminararbeit aus Österreich (http://textfeld.ac.at/text/131 : Saskia Ruprecht, Ephebe und Vater) weiter, in der Harold Blooms Theorie des missreading als Akt der Lösung einer ödipalen Konfliktlage ins Feld geführt wird, um zu zeigen, dass Goethe sich in seinem Text vom Übervater Shakespeare befreit, indem er sich (Miss-)Deutungshoheit verschafft (mit der Betonung auf „Miss-“, weil erst darin die angestrebte „Hoheit“ zum Ausdruck kommt, sonst wäre man dem Meister ja weiterhin unterwürfig nachgefolgt.
Die ödipale Bindung tritt ja in ähnlicher Weise auch bei Werther auf, wenn man sie a) auf die literarischen Vorbilder Werthers oder b) auf die Männerfiguren in Werthers Leben (Vater tot, Ersatzväter: Grafen M. und C., Gesandter, Fürst) bezieht.
Viel Spaß bei der Lektüre!
Matthias Holthaus (Gym.Wildeshausen)
Vielen Dank für den Hinweis auf die wirklich lesenswerte Arbeit. Meine strukturalistische Seele wehrt sich immer ein wenig gegen psychoanalytische Deutungsansätze, aber sie weisen oft eine überzeugende innere Logik auf.
Vor allem durfte ich auf diese Weise Blooms Theorie kennen lernen und meinen Horizont erweitern.
Maik Riecken (CAG Cloppenburg)
Goethe: „Shakespeare, mein Freund, wenn du noch unter uns wärest ich könnte nirgend leben als mit dir, wie gern wollt ich die Nebenrolle eines Pylades spielen, wenn du Orest wärst, lieber als die geehrwürdigte Person eines Oberpriesters im Tempel zu Delphos…“
Goethe war ein Fan Shakespeares, wie der Wilhelm Meister zeigt – der erste berühmte Shakespeare-Roman. Und Karl Philipp Moritz, Goethes bester Freund in Rom, berichtet, man habe dort Shakespeares Cäsar gelesen, um ein Gefühl für die alten Zeiten Roms zu bekommen: „Die Epoche aus der römischen Geschichte, welche er dramatisch bearbeitet hat, triit unter seiner Schilderung so wahr und lebendig vor die Seele, dass amn in Versuchung gerät dem Dichter eine Art Divination in die Vergangenheit, sowie dem Propheten in die Zukunft zuzuschreiben…“