Pygmalion (2004) – ein Theaterstück am CAG
Die meisten von uns machen sich gerne Bilder und Vorstellungen: Vom idealen Lebenspartner, vom perfekten Leben an sich und manchmal sogar von Gott. Haben wir unser Ideal nach langen Mühen erreicht, stellt sich nicht selten Ernüchterung ein: Entweder müssen wir unsere Vorstellungen nachbessern oder das erwartete Glücksgefühl mag sich einfach nicht einstellen. Dieser scheinbare Widerspruch regte so manchen Autoren zum Nachdenken an, so auch G.B. Shaw, dessen dramatisches Stück „Pygmalion“ uns die Theater- und Musik-AG des Clemens-August-Gymnasiums an drei Terminen im Juni 2004 durch eine niveauvolle Aufführung näherbrachten.
Der geniale Sprachwissenschaftler Henry Higgins (Jonas Strickling) schließt mit Oberst Pickering (Barbara Hachmöller) eine Wette ab: Gelingt es ihm innerhalb von wenigen Monaten das einfache Blumenmädchen Eliza (Anne Wigbers) bei Hofe einzuführen, so erhält er einen hohen Geldbetrag. Im Verlauf der Handlung wird sehr schnell deutlich, dass es Higgins weniger um das Geld als vielmehr um eigenen Ruhm geht. Eliza zieht nach einigem Zögern bei Higgins ein, um sich bald darauf einem herrischen, gnadenlosen und unmenschlich strengen Lehrmeister gegenüberzusehen. Trotz tagtäglicher verbaler Erniedrigungen stellen sich rasch die ersten Erfolge ein: Eliza überwindet schnell den eigenen derben Dialekt, lernt sich als Dame des Hofes zu bewegen und zu artikulieren. Sie entwickelt allmählich Zuneigung zu ihrem Lehrmeister, der in ihr jedoch nur das Werkzeug der Erfüllung seiner eigenen Sucht nach Ruhm sieht: Für ihn ist sie ein Experiment, reduziert auf den Gegenstand, das Objekt.
Aber das Experiment entwickelt sich, es entwickelt sich zu einem Menschen, der seiner selbst bewusst ist. Eliza lernt in der Auseinandersetzung mit Higgins die reflektierte Wahrnehmung ihrer selbst und der sie umgebenden, in bloßen Formen erstarrten Gesellschaft, dargestellt durch Teile der Famile Eynsford-Hill (Luise Busse, Tina Schuckmann) und Elizas Vater Alfred Doolittle (Marina Siemers). In ihrer Reflektion nimmt sie ihren Lehrmeister alsbald als das war, was er ist: ein snobistischer, wenngleich genialer Wissenschaftler, der von seiner Mutter (Anastasia Tromfimtschuk) und seiner Haushälterin Mrs. Pearce (Katrin Weilbach) höchst abhängig, ohne sie sogar kaum existenzfähig ist. Aufgrund seiner Begrenztheit im Denken kommt er als Partner nicht mehr in Frage. Eliza emanzipiert sich von Higgins und erreicht einen Stand in ihrer Entwicklung, der ihr eine Rückkehr in ihr Milieu unmöglich macht, sie aber befähigt, den sie umwerbenden, aufrichtigen jungen Mann Freddy Eynsford-Hill (Jan Schulte) als nachhaltigen Partner zu erkennen.
Die neuen Fähigkeiten erregen das Interesse von Higgins zu spät: Er geht in zweifacher Hinsicht leer aus. Die Frau seiner Träume verlässt ihn. Viel bedeutsamer: Die Chance der Erweiterung des eigenen Horizonts verlässt ihn mit ihr.
Die schauspielerische Leistung der Akteure überraschte: sämtliche Rollen wurden authentisch gefüllt und machten den Abend zu einem Erlebnis, welches mir persönlich oft nur von professionellen Bühnen vermittelt wird. Der Hauptdarsteller Jonas Strickling (Prof. Higgins) schien geradezu in seiner Rolle aufzugehen, und auch Anne Wigbers (Eliza) meisterte pikante Szenen professionell und beherrscht. Wirkungsvoll umrahmt wurden die Hauptfiguren durch die Rollen von Petra Wilkens/Friederike Arnold (sarkastische Zuhörerinnen), Juliane Richter (Stubenmädchen) und Hunter Götzmann (ein Mann).
Das Stück wurde immer wieder durch qualitativ ansprechende und stilistisch überraschend breit gefächerte Bandmusik der Musik-AG unter der Leitung von Jens Scholz bereichert. Insbesondere die Gesangseinlagen des Austauschschülers Hunter Götzmann sorgten durch immanente Komik für viel Erheiterung in diesem ernsthaften Stück. Die Stimme von Claudia Lamping unterstrich sowohl die schwachen als auch die selbstbewussten Facetten der Figur Eliza in einer Aufführung, die ohne die Mithilfe vieler hier ungenannter guter Geister im Hintergrund (Maske, Licht, Ton, Bühnenbild, Soffleusen, Kostüme…) nicht hätte realisiert werden können.
Beide Regisseure, Hubert Gelhaus (Leiter der Theater-AG) und Alexander Rolfes, versicherten mir, ihr „Handwerk“ nicht gelernt zu haben: Das fällt schwer zu glauben angesichts des Eindrucks, welchen dieses Stück hinterlässt.
Das sich entwickelnde Eigenleben der „Kreation“ von Prof. Higgins verlieh ihm, dem gefühlskalten Wissenschaftler für einen Moment Emotionen wie Sehnsucht, Liebe und Schmerz. Die bloße Realisierung seines Bildes hätte diese Veränderungen nie bewirken können. Vielleicht werden uns die Bilder deswegen so oft verboten: Sie bedeuten Stillstand, wenn nicht sogar Regression, wodurch sie den Prozess der Entwicklung verhindern. Vielleicht ist das eine mögliche Erkenntnis dieses unterhaltsamen Abends.
Vielen Dank Theater-AG, vielen Dank Musik-AG!