Unterricht ist eine Illusion
Das hört sich wieder einmal böse an, aber ich halte klassischen Unterricht, sei er kooperativ, frontal oder sonstwie geführt für eine solche. In Lehrproben und Unterrichtsbesuchen, also da, wo es darauf ankommt, wird es für mich besonders deutlich.
- Es ist eine Illusion zu glauben, dass SuS einer Lerngruppe zur gleichen Zeit das Gleiche lernen wollen. Deswegen sind Dinge wie Motivation und Disziplinierung überhaupt erst erforderlich. Motivation kann ich durch Methoden, interessante Impulse u.ä. generieren, Disziplin hauptsächlich durch Authentizität und Autorität (das will ich dringend „autoritär“ unterschieden wissen).
- Es ist eine Illusion zu glauben, dass Unterricht frei ist. Der Lehrende gibt bedingt durch z.B. curriculare Vorgaben Inhalte für die Stunde vor und er verfolgt ein Ziel mit einer Unterrichtsstunde, welches zunächst für die Lerngruppe verdeckt ist – sonst wäre die Stunde bereits zerbröselt, wenn ich z.B. den Satz des Pythagoras geometrisch nachweisen möchte und den Beweis an den Anfang stelle. Natürlich kann ich meine Stunde so anlegen, dass mehrere Wege zum Ziel führen. Gleichwohl zwinge ich der Lerngruppe die Stadt auf, in die sie zu gehen haben. Sie können allenfalls entscheiden, ob sie das singend oder tanzend, auf direktem oder indirektem Weg, am Fluss entlang oder über das Gebirge hinweg tun wollen.
Ketzerisch könnte man behaupten, dass eine Stunde dann besonders gut gelingt, wenn ich es als Lehrkraft vollbringe, die Illusion von Freiheit zu schaffen und gleichzeitig die SuS nicht merken zu lassen, dass sie mit einer Illusion konfrontiert sind. Das Urteil nach einer Lehrprobe/Unterrichtsbesichtigung lautet dann: „Die SuS haben sich den Sachverhalt durch eine zweckdienliche Methodik und hervorragende Materialen motiviert und selbstständig erarbeitet!“. Aber das, was sie sich erarbeiten sollten, stand mit den möglichen Wegen, die die SuS gehen konnten, bereits im Entwurf. Deswegen möchte ich solche Stunden nicht „frei“ nennen und Menschen, sondern es handelt sich in meinen Augen dann um eine intendierte, möglichst perfekte Illusion.
Was ist daran schlimm?
Nichts. Wir leben von und mit Illusionen. Schlimm finde ich nur, wenn wir in diesem Zusammenhang von „freien Unterrichtsformen“ sprechen. Sie sind es nicht, weil sie immer dazu dienen, SuS in eine bestimmte Stadt zu locken (in Mathe, Chemie, Physik, Biologie allerdings weit mehr als in Deutsch, Geschichte und Politik). SuS müssen bestimmte Städte kennen lernen, um sich später für eine entscheiden zu können oder sich gar eine neue zu bauen. In dieser Phase halte ich Freiheit für eine Illusion.
Kann man etwas so Grundsätzliches ändern?
Hm. Selbst LdL ist hier nur bedingt illusionsabbauend, weil Inhalte und Ziele immer noch die Lehrkraft vorgibt. Methodisch nimmt LdL jedoch das Individuum in seinen Fähigkeiten sehr ernst. Man „lockt“ weniger in die Stadt, sondern sagt vielleicht: „So, hier ist ein GPS-Gerät, hier ist dein Ziel, du schaffst das!“. Wenn man das oft macht, sagen SuS irgendwann vielleicht: „Hm, ich habe ein GPS-Gerät, jetzt gehe ich außerhalb der Schule damit mal an die Koordinate xy!“. Das ist dann Freiheit und keine Illusion. Auch die oft so verhassten Seminarfächer eignen sich nach meiner Erfahrung für Illusionsabbau, Projektunterricht mit selbst gewählten Inhalten… Ein Gruppenpuzzle hingegen hat eher was von Geocaching mit vorgebenen Koordinaten, auch die Mysterymethode, weil hier die Wege doch irgendwie stärker mit Wegpunkten versehen sind, die gerade in einer Lehrprobe/in einem Unterrichtsbesuch als Kontrollpunkte dienen.
Es gibt pädagogische Ansätze – hauptsächlich von Reformpädagogen – die übrigens diesen inhaltlichen Zielzwang, diese Unfreiheit bewusst vermeiden, z.B. die Montessori-Pädagogik. Diese meine Erkenntnisse und Ergüsse sind also mitnichten „neu“.
Die Relativierung
In der Denke dieses Artikels könnte man natürlich auch sagen, dass Bücher den Lesenden „zwingen“, weil sie Handlung und Handlungsziel vorgeben. Das wird nur ein Problem, wenn man ausschließlich bestimmte Bücher mit bestimmten Handlungen und Handlungszielen liest – das halte ich für das Wesen und die Quelle von Fundamentalismus, sei es religiöser oder politischer oder sonstwelcher. Deswegen brauchen wir nach meinem Dafürhalten „bunten“ und verschiedenartigen Unterricht und da dürfen dann auch gerne Illusionen eine Rolle spielen.
Ich warte aber auf den Tag, an dem ein Bewerter sagt: „Diese Stunde bot eine perfekte Illusion, an der ich mich geweidet habe, weil sie meinem persönlich menschlichen Bedürfnis entspricht!“ Oder so ähnlich.…
Gute Analyse, mir gefällt vor allem die Metapher mit der Stadt.
Ich stimme Dir zu, dass der klassische Unterricht keine wirkliche Freiheit bietet. Hier gibt es m.E. zwei Ansätze:
Zum einen den Ansatz, den Du nennst: im Projektunterricht nur ein grobes Ziel vorgeben und die Teilziele selbst wählen zu lassen („Wir reisen nach Bulgarien, dort habt ihr verschiedene Möglichkeiten – ihr müsst drei Reiseziele ansteuern“).
Zum Anderen kann man die Unfreiheit „erträglicher“ machen, indem man erklärt, warum man das Reiseziel ansteuert, um hierüber den Sinn des Lernens klar zu machen (den Sinn, den es hoffentlich in der Lehrplanvorgabe gibt – was durchaus nicht immer selbstverständlich ist).
Aus meiner eigenen Erfahrung neige ich immer mehr zum ersten Ansatz, weil ich merke, dass ich mit einer inhaltlichen Öffnung im Projektunterricht viel intrinsiche Motivation freisetzen kann und weil ich andererseits in den oft kleinschrittigen Vorgaben des Curriculums selbst Probleme habe, den Sinn zu erkennen.
„kleinschrittigen Vorgaben des Curriculums selbst Probleme habe, den Sinn zu erkennen.“
Das ist für mich ein ganz wichtiger Satz. Wir sprechen dieses Jahr in Deutsch eN (Leistungskurs) hier in NDS über „Deutsche Sprache der Gegenwart“. In den Vorgaben findet sich sehr viel – aber nichts zum Thema Sprachgeschichte, ohne die das Deutsch der Gegenwart m.E. nicht erklär- und verstehbar ist, vor allem in seinen Varietäten, in seinen Unterschieden zu slawischen Sprache (Osterweiterung der EU und Sprachbarrieren) usw.
Das bedeutet doch in letzter Konsequenz eine Art von zivilen Ungehorsam. Ich mache drei Wochen Sprachgeschichte – mindestens. Die „verlorene Zeit“ hole ich später locker wieder ‚rein.
Auch Projektunterricht dürfte an vielen Schulen ein zumindest kleinen Verstoß gegen schulinterne Vorgaben bedeuten. Dabei finde ich zusätzlich schwierig, dass ich oft erlebe, wie „Projektmenschen“ sich gelegentlich auch etwas hinsichtlich der Qualität der Ergebnisse und des Lernfortschritts vormachen. Guter Projektunterricht ist nämlich ganz schön anspruchsvoll. Ich habe in meinem Seminarfach gerade das Ziel „Gestaltung eines literarischen Abends“ ausgegeben – nach gewissen inhaltlichen Impfungen im Rahmen der Facharbeit, z.B. mit Hesse. Ich habe jetzt schon ein wenig Angst, da ich direkt nach den Ferien die Sache mit dem Raum/der Lokalität terminlich festmache…
Stimme dir in einigen Punkten zu (nicht alle wollen gleichzeitig das Gleiche lernen; Unterricht ist *völlig* frei), komme jedoch nicht zu den m.E. recht pauschalen bzw. nicht verallgemeinerbaren Schlüssen.
Lernende wissen doch genau, dass Schule ein Zwangssystem ist (was ich auch nicht so ganz übel finde: wäre z.B. nicht unbedingt froh, wenn ich mich jeden Morgen neu entscheiden müsste, ob ich antrete oder nicht – wie sollte Ausbildung gesellschaftlich gelingen, wenn nicht *auch* durch dieser Art Verbindlichkeit/Zwang?)
Stadtbesuche sind doch schön, denn wenn man gewisse Freiheiten hat, lässt sich doch immer wieder Neues entdecken?!-) – auch mir gefällt das Bild. Entscheidend ist doch, dass die Kids nicht sklavenmäßig in Ketten gelegt durch die Straßen gezerrt, sondern i.d.R. respektvoll und einladend behandelt werden – und so lässt sich das Maß an Unfreiheit, das dem System Schule unbestritten innewohnt, m.E. gut verkraften: es soll ja immer wieder Schülerinnen und Schüler geben, die gerne und nicht unfreiwillig in die Schule gehen.
Problematisch bzw, etwas eng finde ich also deinen Freiheitsbegriff: da wo – eben durch „freie Unterrichtsformen“ – auch Eigenständig- und tätigkeit der jungen Lernenden gefordert, gefördert und unterstützend begleitet wird, entstehen m.E. zwangsläufig schöne, attraktive, motivierende und für die Persönlichkeitsbildung der Heranwachsenden wertvolle Freiheitsräume, die in deiner Argumentation keine Berücksichtigung finden.
Meine Kritik geht – bitte um Nachsicht – noch etwas weiter: Was ich an der Kompetenzorientierung gut finde, lässt sich auch schön in deine Stadt-Metapher einbauen – es geht nicht mehr so sehr darum, dass die Besuchenden wissen wieviele Einwohner, Kirchen und Fabriken etc. es gibt, aber es ist – übrigens auch für den Besuch weiterer Städte – durchaus praktisch zu wissen wie ich an derlei Informationen komme, wie ich mich mit Hilfe von Kompass, Schildern und geschickter Befragung von Passanten orientieren kann, wie ich einen dreitägigen Besuch in der Stadt unter verschiedenen Interessenlagen möglichst sinnvoll gestalte etc. – Auch eine in diesem Sinne kompetenz- und problemorientierte Unterrichtsgestaltung (die vielerlei Anschlüsse an die über 100 Jahre alte Montessori-Pädagogik ermöglicht: „Hilf mir, es selbst zu tun“…) erzeugt Freiheitsräume, welche das, was du vermutlich mit „klassischem Unterricht“ meinst, aufbrechen.
Hier noch einige Gegenthesen zu dem, was – in m.E. zu gedrängter Form – in deinem Beitrag steht: 1. Motivierendes und disziplinierendes Handeln durch Lehrkröfte braucht es auch in nicht-klassischen Unterrichtsszenarien (war einige Zeit auf einer Hermann-Lietz-Schule, die eine andere Pädagogik fahren und ohne M&D – wenn auch gekoppelt mit bzw. aufgefangen durch die Familienstrukturen – nicht funktionieren). – 2. Authentizität dient m.E. weniger der Disziplin(ierung) denn der Motivation, der person- und weltbezogenen Begründung der Sinnhaftigkeit des Gelernten. – 3. Unterrichtsziele sind nicht zwingenderweise „zunächst für die Lerngruppe verdeckt“, ich arbeite oft mit einem transparenten Stundeneinstieg (und sehe das auch bei ReferendarInnen); außerdem kann man methodisch zwischen deduktiven und induktiven Ansätzen wählen.
Last not least nochmals zu dem Grundsätzlichen, in dem wir vielleicht einig werden können: Die Schule bereitet nicht mehr auf das Leben vor (wir haben ja nur schemenhafte Ahnung von den Erfordernissen, die auch nur in zehn-fünfzehn Jahren an unsere Schülerinnen und Schüler gestellt werden), sie IST das Leben… und *darf* daher keine Illusion im herkömmlichen Sinne sein.
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Wenn Schule das Leben ist, warum brauchen wir sie dann überhaupt noch? Kann und sollte dann nicht das Leben unsere Schule sein?
Das kann man auf die Spitze treiben, z.B. hier:
http://freiebildung.wordpress.com/
Ich versuche jetzt stichpunktartig vorzugehen:
Zwang:
Ich meine nicht methodischen Zwang, ich meine inhaltliche Zwänge. Und du wirst nicht bestreiten können, dass du die Inhalte für deinen Unterricht festlegst (auch auf Basis externer Vorgaben…) und dass du aus ganz bestimmten Gründen nicht immer darlegen kannst, warum du in dieser oder jener Art vorgehst (ein guter Grund ist bei mir, dass ich oft selbst noch nicht weiß, wie das gehen soll mit den Vorgaben – Notfall-Prozessorientierung). Das ist ein Machtgefälle, was dann trotz freiheitlicher Methodik zu Gezerre (inhaltlich!) führen kann.
Ob die von dir angesprochene Selbstkompetenz (heißt von Bundesland zu Bundesland anders) innerhalb von Schule unter den jetzigen Bedingungen vermittelbar ist, nunja. Wie groß war noch einmal die ideale Gruppe?
Kompetenz:
Hast du eine brauchbare Quelle für eine Definition von Kompetenz? Gibt es irgendwelche Methoden, um Kompetenzen sicher zu überprüfen? Das wäre ja wichtig und eine Grundvoraussetzung, um meinen Unterricht zu verbessern. Wie stelle ich sicher, dass meine Versuche, Kompetenzen zu vermitteln, nicht mit individuellen Anlagen kollidieren – z.B. Vortragstechnik für SuS, die nicht vor Gruppen reden *wollen*? Und wie passt das Kompetenzmodell zu zentralen Abiturprüfungen?
Authentiztät:
D’accord, nur sehe ich es so, dass du einfach nur andersherum argumentierst: Motivation führt doch in der Regel zu einem höheren Maß an innerer Disziplin (äußerlich kann das anders aussehen) – für mich bedingt sich das gegenseitig.
verdeckte Ziele:
D’accord – ich kenne das z.B. immer wieder aus der Chemie bei Metaarbeit über den Modellbegriff. Die inhaltlichen Ziele sind aber sehr oft verdeckt, auch wenn man – wie ich es auch hin und wieder tue – den geplanten Stundenverlauf an die Tafel bringe.
Ich finde, dass wir unterscheiden müssen zwischen Anspruch und Wirklichkeit. Und die Wirklichkeit zwingt uns (leider) nach meiner Erfahrung oft genug wieder in die Illusion.
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Stoffvermittlung:
Die Aufgabe der Schule ist: ein von der Gesellschaft ausgewählter, als relevant definierter Stoff ist Schülern auf welche Weise auch immer zu vermitteln. Es ist für einen Deutschen wichtig zu verstehen, warum „Effie Briest“ für die deutsche Kultur von Bedeutung ist. Die Schüler müssen sich mit dem Autor befassen, mit dem historischen Hintergrund, sie müssen die Merkmale des Realismus in Effi Briest erkennen, sie müssen Fontanes bewusste Botschaft verstehen und auch die unbewussten mittransportierten Werte herausarbeiten. Hier gibt es keine Freiheit und das wissen alle, der Lehrer und die Schüler. Bei LdL teile ich 3 Schülern mit, was sie der Klasse beibringen müssen (siehe oben), und sie versuchen diese Aufgabe mit ihren Mitteln (also wie es ihnen am sinnvollsten erscheint) zu erfüllen.
Projekt:
Die Schüler können selbst wählen, in welchem „Forschungsbereich“ sie neues Wissen konstruieren wollen. Hier ist alles frei. Will jemand z.B. die Lage der Griechischen Community in Paris erforschen, so kann er vorgehen wie er will. Er muss allerdings eine Suchhypothese aufstellen. Er kann sozialwissenschaftliche Methode heranziehen um sein Thema zu bearbeiten, er kann aber auch selbst seine Instrumente erfinden. Wichtig ist die intersubjektive Prüfbarkeit und Plausibilität der Ergebnisse. Und das Ergebnis ist neues Wissen. Dieses neue Wissen kann er der Klasse vermitteln, z.B. nach LdL. Hier ist alles frei: das Thema, die Forschungsmethode, die Ergebnisvermittlung.
Schule/Leben: Ich finde – mit Chris Lehman http://matthiasheil.de/2009/06/17/technologyschool-chris-lehman-ignitephilly-talk – man kann Schule nicht (mehr) als einen von der Welt getrennten/geschützten Raum sehen, sondern sollte sich auf vielen Ebenen entschieden dem zuwenden, was in der Welt von heute möglich und erforderlich geworden ist: What happens at schools is real life, not preparation for real life (2:58) – die Nutzung von Technologie, v.a. des Webs, spielt dabei eine wichtige Rolle: it should be like oxygen: ubiquitous, necessary & invisible (3:04) — denn vor allem: We teach kids, not subjects (2:00).
Dies ist das genaue Gegenteil von dem, was Jean-Pol in seinem Kommentar mit „als relevant definierte[n] Stoff“ beschreibt: Effie Briest ist vielleicht eine instruktive Lektüre (kann mich nicht erinnern, ob ich sie als Schüler gelesen habe), aber den jungen Lernenden muss doch möglichst überzeugend klar werden, WARUM das so ist – und nicht nur DASS es so ist.
Kompetenzorientierung – hier die gewünschten Quellen: a) Einstieg: Bauch, Kompetenzorientierung in der Lehrerbildung – http://download.bildung.hessen.de/lakk/stsem_gym/marburg/fortbildung/Vortrag_Darmstadt_Kompetenzorientierung_Vf.pdf (weitere Literatur am Ende, v.a. Ziener und Helmke) — b) Etwas ausführlicher: Elisabeth Bonsen & Dr. Gerhard Hey, Kompetenzorientierung – eine neue Perspektive für das Lernen in der Schule – http://www.bebis.de/zielgruppen/auszubildende/rlp_berbil/kompetenzorientierung.pdf — c) Etwas knapper: Bauch/Leichtfuß/Meissner/Waser, Bezugsrahmen zur Kompetenzorientierung – http://www.studienseminar-iii.de/cms/fileadmin/materialien/Bezugsrahmen_zur_Kompetenzorientierung.pdf
Kompetenzorientierung finde ich deswegen gut, weil sie das WARUM ernster nimmt als das DASS – und die neuen Lehrpläne der nächsten Jahre geben Lehrkräften ja gerade ein sehr viel höheres Maß an Freiheit hinsichtlich der inhaltlichen (sic!) Gestaltung des Unterrichts – es kommt also genau das, was du dir (indirekt; Bezug: deine Bemerkungen zum Zwang) wünschst.
Klar habe ich mit dem noch aktuellen Hessischen Lehrplan bisweilen auch Probleme (v.a. weil er häufig überlastet ist bzw. beim Wechsel von G9 nach G8 viel zu wenig reduziert wurde) – inhaltliche Probleme hatte ich bisher nur eines mit einer etwas gewundenen Formulierung im Kath.Reli-Lehrplan der 13/1 – und da bin ich dann augustinisch verfahren: Im Notwendigen Einheit, im Zweifel Freiheit, in allem die Liebe…-)
Ganz klar teile ich auch deine Bedenken hinsichtlich der Realisierbarkeit eigenständiger und ‑tätiger Lernprozesse in (zu) großen Klassen.
Authentizität motiviert und zeitigt auf diese – positive – Weise disziplinierende Effekte insofern, dass ein durch Lehrkraft-Authentizität angestoßenes „Gepacktsein“ junge Lernende von lernprozessinkompatiblen Seitenbeschäftigungen abhält – d’accord!-)
Anspruch und Wirklichkeit klaffen schon immer auseinander und das ist auch nicht nur schlecht, denn anders kann es keinen rechten Fortschritt geben. Natürlich leiden wir an zu großen Klassen, zuviel Bürokratisierung und dem Dauerwiegen (aber nicht ‑füttern) der Ergebnisse unserer didaktischen Bemühungen.
Sich auf vielen Ebenen dem zuzuwenden, was heute möglich und erforderlich ist (s.o.), umfasst ganz klar auch eine institutionelle Komponente, deren Regelung der Politik anheimfällt, die nicht immer in angemessener Weise die Zeichen der Zeit erkennt (Chancengleichheit, Zukunftsinvestition Bildung etc.) – aber das führt jetzt zu weit ab.
Zunächst einmal möchte ich mich bei euch bedanken für die vielen Denkansätze! Ich bin froh, einer generalisierenden Artikel geschrieben zu haben, weil er Reaktionen provoziert hat, die bei mehr Abgeklärtheit mit Sicherheit so nicht eingetreten wären.
Die Quelle schaue ich mir an und wäre ehrlich überrascht, wen sie etwas Anderes/Neueres enthalten als meine Lehrpläne von vor acht Jahren in Schleswwig-Holstein (da wurde in dem Land auf Kompetenzorientierung umgestellt und heute ist das Ganze kurz vor der Abschaffung).
Eine Sache noch – im Prinzip spalten sich m.E. genau daran in Deutschland viele Lehrergeister:
„das WARUM ernster nimmt als das DASS“
Ein Beispiel:
Wie sollen SuS das Warum des selbstständigen Lernens vermittelt bekommen? Es ist m.E. nicht ihre Natur. sondern oft genug unsere erwachsene Wunschprojektion. Viele (V)Erwachsene können dieses „Warum“ schon nicht begreifen. Dieses und andere kompetenzorientierte Ziele bilden für mich sehr oft eine altersunangemessene Überforderung (sie stehen ja explizit bei bestimmten Jahrgängen) und wird für mich zum völligen Hohn in großen Gruppen. Meine 12er-SuS wollen leben, nicht jetzt schon mit den Anforderungen konfrontiert werden, die ein Großteil der Erwachsenenwelt nicht erfüllt (Bänker?). Natürlich bieten die neuen Medien hier Chancen, die durch das umgebende Analoge manchmal arg relativiert werden. Versuchen müssen wir es ohne Zweifel.
Auf das Leben kann ich sie manchmal eben nur durch das DASS vorbereiten, damit sie die Chance haben, gesellschaftliche Nullvorbilder nicht zu adaptieren…
@Matthias
Das sehe ich dialektisch. Natürlich sind Kompetenzen wichtig, das fördere ich auch im LdL-Unterricht. Aber was die Inhalte angeht, ich war immer schon für einen Kanon. In der Literatur beispielsweise werden die zentralen Fragen menschlicher Lebensbewältigung verdichtet angeboten. Welch ein Glück, dass es so etwas gibt. Ähnliches gilt für die Geschichte. Wer durch Nürnberg läuft (z.B.) und vom Mittelalter und der Renaissance kaum etwas weiß, wird absolut blind durch die Stadt gehen und nichts erkennen, daher auch nichts verstehen. Wer wenig weiß über das Christentum und den Islam, wird die heutige Welt nicht verstehen können, usw. Wenn du Effi Briest nich gelesen hast, ist es nicht schlimm. Aber es wäre nicht schlecht, wenn du „Die Weber“ von Gerhard Hauptmann auf dem Programm gehabt hättest, z.B., weil man vieles vom 19.Jhrdt besser begreift. Und dann gibt es auch die Möglichkeit für die Schüler, ganz selbständig im Rahmen von Projekten ganz eingenständig neues Wissen zu konstuieren. Ich plädiere für beides.
Ich folge gebannt. Unterricht ist dann eine Illusion, wenn man die zwei Punkte ganze oben glaubt oder weismacht. (Passiert mir selten.) Kein Schüler fällt doch auf die Illusion der Freiheit herein, selbst wenn der Lehrer das glaubt.
Was heißt schon Freiheit? Für mich ist Unterricht vielleicht eher wie ein gemeinsames Spiel, ein Rollenspiel, ein Fantasy-Rollenspiel: der Spielleiter hat eine Idee, wo es am Schluss hingeht; die Spieler haben die Freiheit, mitzumachen oder nicht oder zu einem anderen, interessanten Schluss zu kommen. In einem echten Dialog ist keiner der Teilnehmer frei, sondern an die Reaktionen des anderen gebunden.
Die Illusion ist dabei die, dass Schüler freiwillig mitspielen, also in der Schule sind.
Schöne Gedanken zum Verhältnis Schule-Außenwelt von Jürgen Baumert, zusammengefasst bei Norbert Tholen: http://norberto42.kulando.de/post/2008/09/09/j‑rgen-baumert-was-ist-schule
Hallo, Maik,
mit ungehöriger Verspätung lese ich deinen Artikel, aber immerhin. Er ist von so grundsätzlicher Bedeutung, dass ich dazu etwas sagen möchte.
Du gehst von einer richtigen Beobachtung aus, ziehst aber die falschen Schlussfolgerungen; denn du hältst für ein Schülerproblem, was ein viel allgemeineres Problem ist. Ich führe das aus:
1. Was du thematisierst, ist das Problem, wie Leute in Institutionen engagiert arbeiten können.
Es handelt sich also nicht nur um das Problem der Schüler, sondern auch um das des Pastors in einer Gemeinde, des Lehrers in einer Schule, des Arztes in einem Krankenhaus – übrigens auch um das Problem des Pflegers oder der Schwester, der Putzfrau oder des Parkwächters. Sie alle sind „angestellt“, auf einen bestimmten Posten (Aufgabenbereich) gestellt, den sie sich mehr oder weniger selbst ausgesucht haben. kriegen für ihre Arbeit Geld und sollen nun mit Herz und Verstand bei der Sache sein – wenn es auch anders geht, wenn man seine Zeit vertun und gelegentlich krankfeiern kann …
2. Dieses Problem kann man nicht generell ohne Beteiligung der Betroffenen durch irgendeine ‚Methode‘ lösen. Bei Arzt, Lehrer und Priester hat man das früher über „Gott“ und die Berufung = „Beruf“ gelöst, während die anderen vielleicht einen Job ausübten (hieß natürlich nicht so); aber seit das mit dem GOTT nicht mehr so recht klappt, muss man andere Lösungen finden.
3. Warum gehst du gern in die Schule? Warum bin ich gern in die Schule gegangen und habe dort mehr getan, als ich musste (= mehr als viele andere Kollegen)? Warum bist du nicht dauernd krank? Warum war ich nicht dauernd „krank“?
Wenn du diese Fragen beantworten kannst, findest du vielleicht auch eine Antwort, wie man die Schüler-Lethargie abstellen kann. Kann man natürlich nicht, können nur die Schüler selber: Du musst ihnen die Möglichkeit dazu geben. Welche?
4. Ich bin gern in die Schule gegangen,
weil ich etwas leisten wollte [und konnte, denke ich],
weil ich oft viele Freiräume hatte,
weil ich feedback von den Schülern bekam,
weil ich viele Schüler (und Schülerinnen) sehr gemocht habe,
weil der Chef mir seine Anerkennung aussprach …
Das Problem ist kein schulisches, sondern ein soziales: Und die Theorie, um es zu verstehen, ist nicht die Pädagogik (und erst recht nicht die Theorie neuer Medien), sondern die Soziologie. Wir (oder ihr: ich bin pensioniert) müsst über den Tellerrand eurer Schule hinausblicken …
Seit vierzig Jahren gibt es Peter L. Berger: Einladung zur Soziologie, ein brillantes Büchlein, das für mich eine Erleuchtung war. Ich kann dir nur empfehlen: Lies es, du siehst die Welt dann ganz anders – und du siehst auch, dass du das eigentlich weißt, was du jetzt explizit verstehst. In dem Sinn: viel Spaß bei der Lektüre!
norberto42